Semantic Web: Internet der nächsten Generation

(c) AP (Fabian Bimmer)
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Der Mensch denkt – aber wer lenkt die Maschine? Seit Tim Berners-Lee das World Wide Web erschaffen hat, existiert die Vision vom Semantic Web, in dem gigantische Datenmengen zu neuer Bedeutung verknüpft werden.

Googlen ist eine Tätigkeit, die Spezialisten für semantische Suche gern in ihre Schranken gewiesen sähen: "Ob Enterprise Search oder Internet: keine Suchapplikation, die nicht den Anspruch erheben würde, den speziellen Unternehmensbedürfnissen gerecht zu werden", schreibt etwa Marion Fugléwicz-Bren, Me­dienbetreuerin der Wiener Semantic Web Company (SWC).
Gemeint ist: Bei den Massen ist ­"Content" – oft genug völlig beliebiger, ungefilterter und ungewichteter Inhalt – der "King". Heute aber zählt der Kontext. "Entscheidend bei der Informationsüberschwemmung unserer täglichen Welt ist der Zusammenhang, in dem etwas steht." Dieser sei auch bei der Suche von höchster Relevanz. Die Autorin spricht davon, dass der "Semantic Turn" da sei oder zumindest nahe. Tassilo Pellegrini, der bei SWC die Medien- und Bildungsdivision leitet, drückt es so aus: "Der Mehrwert von Daten liegt in der Verknüpfbarkeit derselben – mit allen Vor- und Nachteilen, die damit verbunden sind." Das Semantic Web als Geschäftszweig.

Maschine lernt "verstehen"

Semantik ist der Inbegriff der nächsten Suchmaschinengeneration, meint SWC. "Die clevere Kombination aus Textmining, Information Retrieval und Ontologien ermöglicht es, Suchfunktionalitäten zu entwickeln, die der klassischen Volltextsuche weit überlegen sind." Ob für die Optimierung von Informationsportalen, Dokumenten-, Content-Management- oder Frage-Antwort-Systemen – die Kombination aus Sprachverarbeitung, Information Retrieval und Metadatenmanagement bilde die Basis. Durch den hybriden Ansatz lerne die Maschine Schritt für Schritt unterschiedliche Bedeutungskonstrukte zu "verstehen" und unterstütze den Nutzer beim Kontextualisieren von Suchanfragen und -ergebnissen. Die dabei entstehende strukturierte Datenbasis ist die Grundlage und der Rohstoff des Semantic Web.

»"Semantic Web ist keine Spielwiese für technologieverliebte Exzentriker"«

Andreas Blumauer, Mitbegründer der Semantic Web Company

Andreas Blum­auer, SWC-Geschäftsführer sowie für Consulting und Projekte zuständig, sieht das Semantic Web doppelt: im engeren Sinn der Vision bzw. dem Stufenmodell des "Erträumers" Tim Berners-Lee entsprechend, im weiteren Sinn als anwenderzentrierten Ansatz, um webbasierte Anwendungen zu entwickeln. Dabei sei Semantic Web "Standard, Handlungsanweisung und Metapher zugleich". Als Sammlung von Standards ist es die Basis einer immer breiteren Softwareentwicklung, um Wertschöpfungsketten teilweise automatisieren zu können, und zwar organisationsübergreifend. Gleichzeitig entwickle Semantic Web Ansätze und Theorien des Wissensmanagements weiter, baue auf eine integrierte Netzwerk­architektur auf, führe jahrzehntelange Forschungen zusammen und mache sie für Menschen und Organisationen nutzbar. Außerdem stehe Semantic Web "für einen menschengerechten Zugang zu Information und Kom­munikationskanälen". Und mit einigem Sendungsbewusstsein: "Semantic Web ist keine Spielwiese für technologieverliebte Exzentriker, sondern ein entscheidender Evolu­tionsschritt auf dem Weg zum globalen, die Völkerverständigung unterstützenden Kommunikationsnetzwerk".

Aktives Netzwerk

Nach diesem Prinzip ist das Netzwerk der "Semantiker" sehr aktiv. Die Tätigkeit reicht von wissenschaftlichen Veranstaltungen – soeben gab es ein Treffen der seit Jahren tätigen Plattform Wissensmanagement (PWM) auf dem Campus der Donau-Uni Krems – bis zu direkten Kooperationen. So hat SWC zu Jahresbeginn eine Partnerschaft mit dem Kompetenzzentrum für Wissensmanagement, dem Know-Center in Graz, vereinbart. Nicht zu vernachlässigender Zweck: Wissenschaftliche Erkenntnisse sollen "in marktfähige Innovationen münden, um die Lücke zwischen Wissenschaft und Wirtschaft zu schließen". Da die Dynamik in den Informationstechnologien rasant steigt und die Entwicklungszyklen immer kürzer werden, müssen sich Klein- und Mittelbetriebe zusammenschließen. ­Blumauer: "Der Markt ist in Bewegung, die Nachfrage nach Semantic-Web-Lösungen steigt merklich", auch wenn derzeit meist "der Wunsch nach leistungsfähigeren Suchmaschinen" im Mittelpunkt stehe.

Zum zweiten Mal Triple-I

SWC und Know-Center sind auch in der Wissenschaftskommunikation Partner: Heuer veranstalten sie zum zweiten Mal die Innovationskonferenz Triple-I (3. bis 5. September, Graz). Diese zeigt die wachsende Bedeutung und Verknüpfung der Bereiche Wissensmanagement, New Media und semantische Systeme. Durch die Entwicklung gemeinsamer Projekte sind die beiden Unternehmen unter anderem darum bemüht, die Themenbereiche und auch die zahlreichen Anwendungsgebiete um Semantic Web und den Weg vom Web 2.0 zur nächsten Generation zu kommunizieren und den Nutzen klarzumachen. So haben etwa aktuelle Entwicklungen zu einer Verlagerung des Schwerpunkts im Umgang mit ­enzyklopädischem Wissen geführt. Semantische Strukturen müssen in en­zyklopädische Wissensbasen integriert werden, um Faktenwissen zu ergänzen und anzureichern. Auch die Interaktion von Anwendern mit den Inhalten einer Enzyklopädie kann semantische Strukturen generieren, die in diesem Fall auch soziale, kooperative Aspekte umfassen.
Semantische Systeme werden auch von anderen Unternehmen und Gruppen genutzt. Eines der Projekte, die Aufsehen erregen, ist "SemWay" der Forschungsgesellschaft ­Salzburg Research mit der TU Wien, ­Atomic und der Firma Alpstein: Dabei wird erkundet, wie das Finden eines Weges durch Menschen erleichtert werden kann, indem semantisch erweiterte Navigationssysteme zur Unterstützung herangezogen werden.
Ein völlig anders geartetes Projekt wird vom Institut für Wissensmanagement der TU Graz koordiniert: „Idiom“ zielt darauf ab, virtuelle Kooperationen zu unterstützen und zu analysieren. So wie Idiom in der Sprachwissenschaft als zusammengesetzter Ausdruck verstanden wird, dessen Inhalt nicht aus der Bedeutung einzelner Wörter resultiert, erhofft man sich im IT-Projekt durch die Analyse von Informationsdiffusion in elektronischen Netzwerken Erkenntnisse, die nicht aus einzelnen Elementen dieser Netzwerke ableitbar sind.

Produktsuchmaschine

Ein sehr praxisnahes Projekt wird seit der Konferenz Semantics 2006 in die durchaus kommerzielle Realität umgesetzt: Dort stellten vier Wiener Studenten den Prototyp einer völlig neuartigen Produktsuchmaschine vor, die auf dem Semantic Web aufbaut. "Wenn sich jemand ein Handy kaufen will und bei Google zu suchen beginnt, ist er hoffnungslos verloren", sagte damals Markus Linder, einer dieser Studenten. Sie bauten die Webseite esolda.at und gründeten die Firma Smart Information Systems, deren Geschäftsführer Linder ist.
Ein ähnlich praxisnahes Projekt verfolgt das Softwarehaus Altova mit SemanticWorks, einem Werkzeug, mit dem Instanzdokumente, ­Vokabulare und Ontologien für das Semantic Web grafisch erstellt und bearbeitet werden können. Über kontextsensitive Eingabehilfen mit einer Liste zulässiger Auswahlmöglichkeiten lassen sich Dokumente schnell und einfach erstellen.

SOAP, Seife, Soap Opera

Wozu SemanticWorks dient, erklärt Altova mit folgendem Szenario: Ein Software­berater soll in einem neuen Projekt für einen wichtigen Kunden eine Reihe von SOAP-basierten Webservices erstellen. "Zuerst müssen Sie sich über SOAP informieren, daher suchen Sie mit Ihrer bevorzugten Suchmaschine nach dem Begriff." Die meisten Ergebnisse beziehen sich auf Geschirrspülmittel, Gesichtsseifen und Soap Operas. "Sie müssen sich erst durch zahllose Suchergebnisse und verlinkte Seiten arbeiten, bis Sie Informationen über die SOAP-Spezifika­tionen des W3C finden."
In einer Semantic-Web-Umgebung könne das Internet nach Zusammenhängen durchsucht werden, in denen "SOAP" eine Technologiespezifika­tion ist. Altova weiter: "Außerdem liefert Ihnen Ihr Agent auf Basis der zu SOAP verfügbaren semantischen Informationen eine Liste damit in Zusammenhang stehender Technologien. Sie wissen daher, dass WSDL, XML und URI Technologien sind, die mit SOAP konnektieren und dass Sie vor Projektbeginn auch diese Themen recherchieren müssen." Der Berater habe sein Projekt sicher, meint Altova.
Als Gedankenausflug in eine vage, ferne Zukunft mag ein Projekt dienen, das von der Forschungsgruppe AKSW (Agile Knowledge Engineering and Semantic Web) an der Universität Leipzig verfolgt wird: Triplify. Die Anfang April veröffentlichte neue Version 0.3 dieses "Webanwendungs-Plug-in" erschließt strukturierte Daten aus relationalen Datenbanken.

Kampf gegen ein Dilemma

Mit Triplify wird gegen ein Dilemma angekämpft: Trotz weltweiter Forschungs- und Entwicklungsarbeit "ist das Wachstum von Webseiten, die semantische Repräsentationen verwenden, immer noch dem Wachstum traditioneller Webseiten unterlegen", so AKSW-Organisator Sören Auer. AKSW wolle "das Huhn-oder-Ei-Dilemma fehlender semantischer Darstellungen und Suchmöglichkeiten im Internet" überwinden und mit Triplify "den fehlenden Funken für das semantische Web" liefern.
Dann könnte die Zeit kommen, da das Internetmagazin "CNET" einen Artikel über das Semantic Web nicht mehr mit dem Titel versieht: "Nächster großer Schritt für das Web – oder ein Umweg?"

(Die Presse, 23.04.2008)

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