Mit Geld zur Werbung auf Wikipedia

CURITIBA PR 19 06 2015 PRESENTATION OF THE FOUNDER OF WIKIPEDIA Jimmy Wales founder of Wikipe
CURITIBA PR 19 06 2015 PRESENTATION OF THE FOUNDER OF WIKIPEDIA Jimmy Wales founder of Wikipe(c) imago/Fotoarena (imago stock&people)
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Die Online-Enzyklopädie hat ein Netzwerk von Autoren aufgedeckt, die für Firmen Einträge erstellen. Wie objektiv sind die Angaben über Unternehmen und Produkte?

Wien/London. Als Denis Diderot seine „Encylopédie“ im 18. Jahrhundert der Öffentlichkeit übergab, verband der französische Aufklärer damit eine große Hoffnung: „Dass unsere Enkel nicht nur gebildet, sondern auch tugendhafter und glücklicher werden.“ Ähnlich idealistisch gesinnt sind die Gründer und meisten Autoren von Wikipedia, der Enzyklopädie unserer digitalen Tage. Aber wo aus Prinzip jeder mitschreiben darf, gibt es auch schwarze Schafe. Und bei Einträgen über Unternehmen und ihre Waren bleibt die Tugend zuweilen auf der Strecke.

In Großbritannien hat die Stiftung nun ein „koordiniertes Netzwerk von Betrügern“ aufgedeckt, die sich gegen Bezahlung als Autoren angedient hatten. 381 Benutzerkonten und 210 Artikel wurden gesperrt, wie der „Independent“ berichtet. Es geht um „Sockenpuppen“, wie man im Netzjargon Autoren mit falschen Identitäten nennt. Wer hier die Puppen tanzen ließ und ob hinter dem Netzwerk womöglich nur eine einzige Person steht, bleibt vorerst unklar.

Kleinvieh und PR-Giganten

Im Visier hatten die geschäftstüchtigen Schreiber neben C-Promis vor allem die Besitzer von Geschäften und kleinen Firmen, die zuvor mit ihren plumpen Versuchen von Eigenwerbung gescheitert waren. Denn im Prinzip kann ja jeder auf Wikipedia einen Eintrag erstellen, auch über sein eigenes Business. Aber wenn alles richtig läuft, wird übertriebenes Selbstlob von der Nutzergemeinschaft rasch erkannt und entfernt. Da freut sich der frustrierte Laie, wenn ein anerkannter Wikipedia-Mitwirker ihm Hilfe anbietet: Ich schreib dir das so, dass es drinnen bleibt, für ein paar hundert Pfund. Und für eine monatliche Gebühr halte ich das Loblied auf deinen Laden dauerhaft frei von Misstönen.

Einige, die das Angebot angenommen haben, stellen sich in der Zeitung nun als Opfer dar: Kaum hätten sie gezahlt, sei der Text wieder verschwunden. Oder: Die Geldforderung hätten sie erst im Nachhinein erhalten. Manche fühlen sich gar erpresst. Vor zwei Jahren gab es einen ähnlichen, größeren Fall in den USA. Auch damals sperrte die Stiftung hunderte Profile von käuflichen Autoren.

Freilich, es geht hier um Kleinvieh. Aber es macht Mist. Denn es zeigt, dass die Selbstkontrolle der Wikipedia weiter Lücken hat. Eine „Sockenpuppe“ kann vor ihren Umtrieben durchaus das Vertrauen der Community gewonnen haben. Am besten mit mehrfacher Identität. Dann überprüft Puppe Zwei den Artikel von Puppe Eins und verleiht ihm das Gütesiegel, ohne dass es ein Dritter hinterfragt.

Die Nachfrage nach Manipulation ist jedenfalls groß. Denn für Unternehmen ist eine positive Beschreibung im neutralen Lexikon ungleich wertvoller als die Selbstdarstellung auf der eigenen Homepage oder Facebookseite, die jeder als geschönte Werbung empfindet.

Kurioserweise scheint das große Geschäft mit dem guten Image besser im Griff zu sein. Das ist Bell Pottinger zu verdanken. Die mächtige PR-Agentur sorgte Ende 2011 für einen Skandal. Sie musste zugeben, dass sie für ihre Kunden hunderte Einträge geschönt hatte. Schlimmer machte es noch die Rechtfertigung, man habe „nichts Illegales“ gemacht, vor allem nie gezielt Lügen verbreitet. Das erregte den Zorn von Wikipedia-Gründer Jimmy Wales, der sich über „moralische Blindheit“ empörte.

Das Ergebnis war ein PR-Gau für die PR-Firma. Wer auf Google nach Bell Pottinger sucht, dem springen heute noch die Berichte von damals ins Auge. Und wer sich – auf Wikipedia natürlich – über das Unternehmen informieren will, kann das Kapitel „Kritik“ nicht übersehen, das mehr als die Hälfte des Eintrags ausmacht.

Das gab anderen PR- und Werbegiganten zu denken. Im Juni vorigen Jahres gingen zwölf von ihnen in die Offensive, darunter Ogilvy & Mather, Edelman und Burston-Marsteller. Per Unterschrift gelobten sie, sich an die Wikipedia-Grundsätze zu halten. Eine Woche später änderte die Enzyklopädie ihre Regeln: Wer im Auftrag einer Firma oder einer Agentur Artikel ändert, muss das öffentlich machen.

Umstrittene deutsche Studie

Aber die Skepsis bleibt. In Deutschland sorgte 2014 eine Studie im Auftrag der Otto-Brenner-Stiftung für Aufsehen, die den Einfluss von Bezahlautoren untersuchte. Das Fazit: PR und Manipulation seien in der deutschsprachigen Wikipedia „allgegenwärtig“. Auch dieser Befund blieb nicht lange unwidersprochen. Kritiker nannten die Studie übertrieben, einseitig und spekulativ. Ein Beispiel: Es stimme zwar, dass Daimler einen Abschnitt über NS-Zwangsarbeit gelöscht hat. Aber schon eine Minute später sei die Manipulation behoben gewesen.

Noch ein Hinweis des Autors dieses Artikels: Nicht wenige der hier verwendeten Informationen stammen von Wikipedia. Wer sie für falsch hält, wird höflich gebeten, die betreffenden Einträge eigenhändig zu korrigieren.

AUF EINEN BLICK

Wikipedia wurde 2001 gegründet. Das freie Onlinelexikon umfasst heute 35 Millionen Artikel in über 280 Sprachen. Während Einträge zu wissenschaftlichen Themen zunehmend Anerkennung gewinnen, bleibt die Skepsis bei Artikeln zu Unternehmen und Marken groß.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2015)

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