Facebook hat über 900 Millionen Nutzer. Ihnen ist ein möglicher Datenmissbrauch egal. Wer heute noch aussteigt, der will sein Leben radikal ändern.
Wien. Wir kannten uns flüchtig. Ich war eine von Hunderten ihrer „Freunde“ auf Facebook. Sie schien rund um die Uhr online zu sein. Gemeinsam lernten wir ihre neue Liebe kennen. Wir trennten uns von ihr wieder. Wir trauerten mit, als ihr Hund verletzt wurde. Wir rätselten über geheimnisvolle Andeutungen. Und plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, war sie weg. Waren „wir“ weg. Die junge Frau hat ihr „Profil“, also ihre ganz persönliche Seite, von Facebook genommen. Sie, „wir“ existieren nur noch in der gespeicherten Datenmasse auf irgendwelchen irischen Servern.
Was war passiert? Über Facebook konnte man ja nicht mehr nachfragen. Also „real“. „Facebook ist immer mehr zu einer Last geworden“, erzählt sie. Sie wurde von ihren Exfreunden gestalkt. Sie verbrachte jede freie Minute im Netz, es saugte unglaublich viel Zeit ab. Und das widerfuhr hier nicht einem Teenager. Sondern einer toughen Businessfrau. Der durchschnittliche Facebook-Nutzer ist schließlich zwischen 24 und 34 Jahre alt – und in puncto Quote in Mitteleuropa vorbildlich: 50 Prozent männlich, 50 Prozent weiblich. „Ich habe Facebook als offensives Kommunikationsmittel genutzt. Ich habe lange mit mir gerungen, und natürlich geht es mir ab. Aber ich habe einen neuen Mann, jetzt will ich wieder mehr privat, weniger Staat“, sagt sie.
„Delete“ – schlägt ein Professor vor
Denn sicher kann man sich spätestens seit 1.April, seit Einführung der Vorratsdatenspeicherung in Österreich, nicht mehr sein, wo die lustigen Fotos, der läppische Kommentar, die unbedachte Freundschaftsanfrage überall landen, wie sie einmal gegen einen ausgelegt werden könnten. Oder für andere Zwecke ausgebeutet werden.
Was bedeutet es aber, wenn unsere Kultur immer mehr Wissen anhäuft und abspeichert? Wenn wir nicht mehr „vergessen“ können? „Delete“, löschen, schlägt der Harvard-Wissenschaftler Viktor Mayer-Schönberger in seinem gleichnamigen Buch, Untertitel „Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten“, vor. Gewisse Datensätze, so meint er, sollten mit einer Art Verfallsdatum versehen werden, nach dem sie sich selbst vernichten. So hätte das Gedächtnis der Menschen doch noch eine Chance, nicht unter der Datenflut zusammenzubrechen.
Ein origineller Zugang. Jedenfalls origineller als die Menge an Fachliteratur über die Gefahren von Facebook: Von „Die Facebook-Falle: Wie das soziale Netzwerk unser Leben verkauft“ (Sascha Adamek) über „Phänomen Facebook: Wie eine Webseite unser Leben auf den Kopf stellt“ (Jakob Steinschaden) bis zu „Der Facebook-Effekt: Hinter den Kulissen des Internet-Giganten“ kann man sich so ungefähr alles an Schauerszenarien hineinziehen, was man sich vorstellen kann.
Doch die über 900 Millionen Netzwerkbewohner lassen sich davon nicht wesentlich irritieren. Das System hat sich verselbstständigt. Ein Phänomen, das als internes Netzwerk der Universität Harvard begann, ist heute Alltag für einen Großteil der global orientierten Mittelschicht geworden. Hier wird man auf die Geburtstage der Freunde hingewiesen, hier kann man die Hochzeits- und Babyfotos sehen, hier finden Klassentreffen statt, hier wird sogar der Tod der Mutter betrauert, samt Foto.
Ein Gang mit Bassena und Anschlagtafel
Facebook ist wie ein Gang mit Bassena und Anschlagtafel. Vielleicht ist das ja ein Grund, warum sich die österreichische Kulturszene hier so wohl fühlt. Kaum ein Künstler, kaum ein Szene-Autor, der über dieses Netzwerk nicht seine Artikel, Vorträge, Ausstellungen promotet. Kaum ein Kulturschaffender, den man nicht in Minutenschnelle über Facebook erreichen kann – immer online, immer bereit.
So großer Erfolg ruft natürlich Mitbewerber auf den Plan: Am meisten Chancen rechnete sich Google plus aus – und tatsächlich waren sich Beobachter eine Zeit lang nicht sicher, ob ein soziales Netzwerk eines so potenten Konzerns Facebook nicht vom Thron stoßen könnte. Aber Google plus setzte sich nicht durch – obwohl der Hype mit strategischem Geschick inszeniert worden war, indem man den Zugang zunächst künstlich beschränkte. Anmelden durfte sich nur, wer von einem anderen Nutzer dazu eingeladen wurde – die Internet-Elite konnte sich im Gefühl sonnen, privilegiert zu sein.
Als der Zugang ab September 2011 freigeschalten wurde, war der Andrang groß. Doch die meisten Accounts liegen seither brach, genutzt wird das Netzwerk nur spärlich, und so manch einer hat nur mehr Spott übrig: Mit Google plus sei es ein bisschen wie mit dem Film „Nachricht von Sam“, war neulich auf Twitter zu lesen: „Man hört zwar regelmäßig von ihm, aber eigentlich ist er tot.“ Womit wir bei einem weiteren sozialen Netzwerk wären: Auf Twitter hat man keine Freunde, sondern Follower – das funktioniert auch einseitig. Es werden keine Seiten aufgerufen, sondern eine Timeline, auf der man verfolgen kann, was die anderen User so zu sagen haben. Wenn man will, kann man sich an Diskussionen beteiligen oder auch selbst eine vom Zaun brechen: Wenn Facebook die Bassena ist, ist Twitter der Wirtshausstammtisch – Platzhirsche inklusive.
Auch wenn Twitter ein ganz anderes Prinzip verfolgt, eine echte Konkurrenz ist es trotzdem: Die wenigsten haben nämlich Zeit beides intensiv zu betreiben.
Auf einen Blick
24 bis 34 Jahre ist der durchschnittliche Facebook-Nutzer alt. Männer und Frauen sind in dem sozialen Netzwerk gleichmäßig vertreten. Seit der Gründung im Jahr 2004 ist die Zahl der Mitglieder rasant auf etwa 900 Millionen angewachsen. Damit hat jeder achte Erdenbürger einen Account bei Facebook.
Genutzt wird Facebook vor allem für private Nachrichten und virtuellen Bassena-Tratsch. Freiberufler, Künstler und Firmen nutzen Facebook zunehmend aber auch für geschäftliche Kontakte (oder versuchen es zumindest).
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2012)