Frankreich: Ein Recht auf Funkstille in der Freizeit

Immer erreichbar für den Chef? Seit Neujahr haben die Franzosen ein gesetzliches Recht zum Abschalten.
Immer erreichbar für den Chef? Seit Neujahr haben die Franzosen ein gesetzliches Recht zum Abschalten.(c) REUTERS (Christian Hartmann)
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Weltweit erstmals schützt ein Gesetz Angestellte außerhalb ihrer Dienstzeiten vor drängenden E-Mails von Vorgesetzten und Kunden. Die Initiative ging von großen Unternehmen aus – auch aus Angst vor den Arbeitsgerichten.

Wien/Paris. Hunderttausende Franzosen gingen im Vorjahr auf die Straße, um eine Reform des Arbeitsrechts zu blockieren. Vor allem die Lockerung des Kündigungsschutzes erregte die Gemüter. Fast unter ging dabei ein Passus des neuen Gesetzes, den sich eine klare Mehrheit gewünscht hat: das festgeschriebene Recht auf Unerreichbarkeit. Seit Neujahr ist es so weit: Keinem französischen Arbeitnehmer soll es zum Schaden gereichen, wenn er sein Diensthandy nach Feierabend, am Wochenende und im Urlaub abschaltet. Eine „Weltpremiere“ nannten dies Anwälte auf einer Pressekonferenz: „Kein einziges Land hat es bisher gewagt, sich auf ein solches Abenteuer einzulassen.“

Bei näherem Hinsehen ist das Gesetz weniger spektakulär und ziemlich pragmatisch. Für Ausnahmefälle soll Platz bleiben. Zu unterschiedlich sind die Anforderungen, zu sehr steckt der Teufel im Detail. Deshalb bleibt die konkrete Umsetzung den Unternehmen überlassen. In allen Firmen mit mehr als 50 Mitarbeitern müssen sich Management und Betriebsrat um eine Vereinbarung bemühen. Gelingt sie nicht, verfasst der Arbeitgeber von sich aus eine Charta, die Details fixiert. Versäumt er das, drohen ihm (vorerst) keine Strafen – was die Gewerkschaften ärgert.

Doch so zahnlos, wie es klingt, ist das Gesetz keineswegs. Denn die Vorarbeit hat die im Arbeitsrecht sehr rigorose französische Justiz geleistet. Das oberste Revisionsgericht (vergleichbar unserem OGH) hat schon entschieden: Niemand darf gekündigt werden, weil er außerhalb der Arbeitszeiten nicht erreichbar war. Wenn Mitarbeiter mit All-inclusive-Verträgen im Streit von ihrer Firma scheiden, legen sie den Arbeitsgerichten gern die E-Mails ihrer Vorgesetzten vor, die sie zu Arbeit in ihrer Freizeit nötigten. Mit diesem „Beweismaterial“ verlangen sie die nachträgliche Auszahlung von Überstunden – meist mit Erfolg.

Volkswagen als Vorreiter

So schien es nur eine Frage der Zeit, bis die ersten lästigen Chefs auf Mobbing verklagt und auch bestraft werden. Ein Horrorszenario für die Unternehmen. Deshalb drängten vor allem große Konzerne auf eine gesetzliche Regelung, die dem Risiko vorbeugt. Der erste (noch deutlich strengere) Entwurf stammte denn auch nicht etwa von einem gewerkschaftsnahen Ministerialbeamten, sondern vom früheren Personalchef des Telekom-Anbieters Orange. Eine Flucht nach vorn – denn mit Betriebsvereinbarung oder Charta können sich Arbeitnehmer nun besser wehren.

Aber auch ehrliche Sorge vor dem Burn-out wichtiger Mitarbeiter spielt eine Rolle. Gerade höhere Angestellte, die viel reisen und mit Kollegen in anderen Zeitzonen in Kontakt stehen, leiden unter dem (echten oder gefühlten) Druck, sie müssten ständig erreichbar sein und alle Anfragen eilig beantworten. Laptop und Smartphone mit Anschluss an die Firmenserver machen die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben immer fließender. Im schlimmsten Fall bleibt jede Erholung auf der Strecke: Wer sein Diensthandy nicht abschaltet, kann nicht mehr abschalten.

So setzten viele Konzerne schon lange vor dem Gesetz schützende Initiativen. Beim Versicherer Axa legt eine Betriebsvereinbarung klar fest: Ein am Abend oder am Wochenende erhaltenes E-Mail erfordert keine rasche Antwort. Bei Michelin erfasst das EDV-System, wie lange sich Angestellte außerhalb der Dienstzeiten mit dem Server verbinden, um zu arbeiten. Läutet die Alarmglocke, muss es ein klärendes Gespräch mit dem Vorgesetzten geben, das auch der Mitarbeiter selbst verlangen kann.

Am weitesten ging aber bisher kein französisches, sondern ein deutsches Unternehmen: Volkswagen kappte schon Ende 2011 für (mittlerweile) 3500 höhere Angestellte nach Feierabend die Verbindung zum Mailserver. Andere Autobauer folgten: BMW hat mit dem Betriebsrat das Recht auf Unerreichbarkeit in der Freizeit festgeschrieben. Bei Daimler können Angestellte auf Wunsch alle E-Mails löschen lassen, die sie im Urlaub empfangen. Und bei der Deutschen Telekom haben sich die Manager selbst verpflichtet, ihren Mitarbeitern keine Mails hinterherzuschicken – damit in der Ruhezeit auch wirklich Ruhe ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.01.2017)

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