Medizin: Fördern Antidepressiva Selbstmorde?

Selbstmord fordert mehr Opfer als andere Gewalt, alarmiert die Weltgesundheitsorganisation. Aber auch Medikamente geraten in Zweifel .

Alle 40 Sekunden setzt irgendwo auf der Erde jemand seinem Leben ein Ende, eine Million im Jahr. Kriege fordern 230.000 Opfer, Mord und Totschlag 500.000, selbst eine Hauptursache gewaltsamer Tode kann regional nicht mithalten: "In den meisten europäischen Ländern ist die Zahl der Selbstmorde höher als die der Verkehrstoten", bilanziert die Weltgesundheitsorganisation WHO, die das Problem seit letztem Jahr hoch oben auf ihrer Liste und den heutigen Tag zum "World Suicide Prevention Day" ausgerufen hat.

Am höchsten sind die Raten in Osteuropa, am niedrigsten in Südamerika und muslimischen Ländern, von Afrika gibt es keine Daten und auch die anderen sind mit Vorsicht zu genießen, ebenso die Schätzungen der nur versuchten Selbstmorde, 10 bis 20 Mal so viel sollen es sein. Mit der Ausnahme des ländlichen China legen mehr Männer als Frauen die Hand an sich, weltweit gibt es einen höchst beunruhigenden Trend: In der Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen steigen die Raten "alarmierend" (WHO). Verbreitetste Tötungsmittel sind Pestizide - in den großen landwirtschaftlichen Regionen der Erde -, Feuerwaffen und Medikamente, dort soll die Prävention ansetzen. Wo der Zugang zu Feuerwaffen und Pestiziden eingeschränkt wurde, sanken die Opferzahlen. Und bei Medikamenten hilft auch etwas verblüffend Einfaches: "Viele Pharmafirmen verpacken Schmerzmittel seit kurzem in Blister (Folien, aus denen man die Pillen herausdrücken muss) und nicht mehr in leichter zugängliche Flaschen", erklärt die WHO: "Das hatte einen signifikanten Einfluss."

Aber nicht überall wird die Pharmaindustrie gelobt: In den USA wächst der Verdacht, die Selbstmordbereitschaft mancher Kinder werde justament von jenen Wundermitteln gefördert, mit denen man seit Ende der 80er-Jahre Depressionen therapiert. Sie gehören zur Gruppe der "selective serotonin re-uptake inhibitors" (SSRI) und heißen etwa Zoloft oder Paxil oder Effexor oder Celexa, auch Prozac funktioniert so, ist aber eine Ausnahme: Klinische Tests haben gezeigt, dass es auch Kindern bei Depression hilft. Bei anderen Medikamenten hingegen gab es Hinweise auf die Suizid-Gefahr, sie wurden nur nicht bekannt: Die Firmen publizierten ihre Studien nicht.

Aber eine Organisation von Eltern, deren Kinder während Therapien Selbstmord begangen haben - "Alliance for Human Research Protection" - treibt Firmen und Behörden vor sich her. Auf ihren Druck forderte die zuständige Behörde (FDA) letztes Jahr von GlaxoSmithKline unpublizierte Daten über Tests von Paxil an Kindern an. Die zeigten so stark erhöhte Selbstmordgedanken, dass die FDA ihre Untersuchung auf alle Tests an dieser Altersgruppe ausdehnte: Kinder, die echte Medikamente erhielten, hatten eine 1,89 Mal so hohe Selbstmordbereitschaft - umgesetzt haben sie sie in den Tests nicht - wie Kinder, die Placebos bekommen hatten (Nature, 413, S. 122).

Das wurde Mitte August endgültig bestätigt. Zeitgleich wurde eine Studie bekannt, die auch bei Prozac verstärkte Gedanken an Gewalt gegen sich selbst oder andere zeigte. Warum das so ist, ist völlig unklar: Manche Psychiater vermuten dahinter eine Nebenwirkung - Unruhe -, andere sehen die Ursache in der Hauptwirkung: Die Depression würde gerade so weit zurückgedrängt, dass die Patienten Energie zum Suizid finden.

Ebenfalls unklar ist, wie es weitergehen soll, die FDA hat für das Wochenende eine Krisensitzung einberufen: Haben alle diese Medikamente dieselbe Wirkung auf Kinder? Soll man sie bei ihnen lieber nicht einsetzen? Die meisten Psychiater empfehlen den Einsatz, aber einen sorgsameren als bisher.

Webtipp:
www.who.int
www.ahrp.org

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