"Die Frage nach dem Ursprung der Völker ist falsch gestellt"

Woher kommen wir? Wer sind wir? Fragen nach den Ursprüngen moderner Identitäten gingen Mediävisten bei einem Wiener Symposion nach - weit abseits von nationalistischem Mißbrauch.

"Wir wissen heute, daß die Frage nach dem Ursprung falsch gestellt ist", sagt Walter Pohl. Der Frühmittelalter-Historiker und Leiter der Forschungsstelle für Geschichte des Mittelalters der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien (ÖAW) illustriert dies am Beispiel Österreichs: Es wäre Unsinn, den Ursprung Österreichs auf ein bestimmtes Datum, ein bestimmtes Ereignis zu fixieren; die Herausbildung der österreichischen Nation sei ein Prozeß über viele Jahrhunderte gewesen, der erst nach 1945 seinen Abschluß gefunden habe.

"Die Suche nach den Ursprüngen - Von der Bedeutung des frühen Mittelalters" lautete der Titel eines Symposions an der ÖAW, bei dem sich eine Schar von internationalen Mediävisten in Wien versammelte.

Lange Zeit sei das frühe Mittelalter mit einem "romantisch-verklärenden Blick" betrachtet worden, meint Pohl. Vorstellungen von einer "Volksseele", einem "Volksgeist", einer "völkischen Substanz" hätten sich oft in der älteren Forschung manifestiert. "Die Frühmittelalter-Forschung war kompromittiert durch nationalistischen Mißbrauch, etwa die Germanentümelei im Nationalsozialismus." Daher habe eine Gegenbewegung eingesetzt, die das, was zuvor auf falsch verstandene "Ursprünge" reduziert und verengt worden war, überhaupt verwarf.

"Ein Verzicht auf die Frühmittelalter-Forschung ist aber ein großer Verlust", so Pohl. So spreche man bei dieser Epoche - etwa vom fünften bis zehnten Jahrhundert - zu Recht von der "Geburt", vom "Werden Europas". "Damals entstand die ethnische Geographie Europas." Aber auch sprachliche oder kirchliche Identitäten, etwa Klöster, Diözesen, Heilige.

Das Symposion verstand sich als Versuch, einen "dritten Weg" - zwischen Romantisierung und Verschweigen - zu gehen, um der Bedeutung des frühen Mittelalters für die Entwicklung Europas gerecht zu werden. Dieser Weg ist eng verbunden mit Wien: Aus dem Versuch, die Entwicklung ethnischer Prozesse zu erklären, Völker nicht als naturgegebene, fertige Einheiten zu verstehen, sondern vielmehr nachzuzeichnen, wie ein "Volk" sich bildet, und damit nationale Denkweisen zu überwinden, entstand die "Wiener Schule", die eng mit Herwig Wolfram verknüpft ist.

Germanen abschaffen?

Der Doyen der österreichischen Mediävistik gab mit seinem Buch über die "Geschichte der Goten" 1979 die Initialzündung zu diesem Ansatz. Mittlerweile ist Wien zu einem weltweiten Zentrum der Frühmittelalter-Forschung avanciert. "Wenn sich die Geschichtsforschung der Herkunftsgeschichten mehr denn je annimmt, will sie damit nicht die Regale eines Kuriositäten- und Gruselkabinetts füllen, sondern es steht ein wissenschaftlicher, aber auch gesellschaftspolitischer Anspruch dahinter", so Wolfram.

Es gehe darum, die Geschichte von ihrer "mythischen Befrachtung" zu reinigen, die "Geschichtlichkeit der Ursprungsmythen" aufzuspüren. Oder wie es Wolfram-Schüler Pohl formulierte: Ein neuer Horizont tue sich auf, wenn die historischen Quellen als "Spuren einer Identitätsfindung", einer "Suche nach Sinn" verstanden werden - und nicht als Spiegelbilder bestehender Identitäten.

Einer der hartnäckigsten Ursprungsmythen sei etwa jener von der Reinrassigkeit der Germanen, so Wolfram. Dabei werde allerdings Tacitus (römischer Geschichtsschreiber aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert), auf dessen "Germania" man sich dabei beruft, bloß selektiv rezipiert. "Daß es keine unvermischten Völker gegeben haben kann, hat bereits Seneca logisch deduziert", so Wolfram - dennoch werde bis heute immer wieder das Gegenteil behauptet.

Darüber hinaus würden immer wieder Ursprünge geleugnet und andere, "bessere" konstruiert. "So wollen etwa die Bayern und Österreicher heute noch Boier, das heißt Kelten sein, und in Kärnten gibt und gab es bekanntlich keine oder nur dünn siedelnde Slawen."

Für Aufsehen sorgte der Paderborner Mediävist Jörg Jarnut mit seinem Plädoyer für die Abschaffung des Begriffs "germanisch". Er begründete dies damit - und darin herrschte allgemein Übereinstimmung -, daß es sich um ein Konstrukt handle: "Die mit diesem Begriff Belegten sahen sich selbst nicht als Einheit", so Jarnut. In den frühmittelalterlichen Quellen sei stets von konkreten Völkern die Rede, etwa Vandalen, Langobarden, Goten, nie von Germanen im modernen Sinn. "Die Vorstellung von einer ethnischen Einheit der Germanen ist historisch unhaltbar."

Wolfram, der selbst ein Buch über die Germanen publiziert hat, konzedierte eine gewisse Problematik. Dennoch war er sich mit den meisten Diskutanten darin einig, daß es aus pragmatischen Gründen kaum möglich sei, auf den Begriff zu verzichten - nicht zuletzt, weil eine bessere Alternative fehlt. Wesentlich sei es, den Begriff von seinen belastenden Konnotationen zu befreien. "Auf ihre Herkunft dürfen sich die Nationen berufen, sobald sie jedem irrationalen Mythizismus, jedem Nationalismus und Chauvinismus abgeschworen haben", meint Wolfram.

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