Der Mensch kann nur deshalb Kultur produzieren, weil es ihm seine Natur erlaubt. An diesem Gemeinplatz scheiden sich nach wie vor die Geister. Anmerkungen zu einem Feindbild vieler Philosophen.
Eigentlich sollte man denken, dass die traditionell angenommene Kluft zwischen „Natur“ und „Kultur“ längst überwunden und die Brücke zwischen Natur- und Geisteswissenschaften gebaut sei. Nur wenige Geisteswissenschaftler zweifeln heute noch daran, dass der Mensch – wie alle anderen Arten – der Evolution durch natürliche Auslese entsprungen und mithin in der Natur verwurzelt ist.
In der Welt der Geisteswissenschaftler und Philosophen wäre ja alles in Ordnung – gäbe es da nicht die „Naturalisten“, die plötzlich in einem Revier wildern, das sie lieber nicht betreten sollten. Neurobiologen erklären das Bewusstsein und „entscheiden“ darüber, ob es einen freien Willen gibt; Soziobiologen glauben, unser gesellschaftliches und kulturelles Verhalten auf genetischer und evolutionstheoretischer Grundlage erklären zu können; Primatenforscher weisen uns einen Platz dicht neben den Schimpansen zu (sofern sie uns von diesen überhaupt noch unterscheiden)...
So plötzlich kommt diese Entwicklung auch wiederum nicht. Ein Blick auf die Geschichte der Philosophie (sic!) zeigt, dass der „Naturalismus“ schon seit der Antike wie ein schmales Schiff in der Brandung philosophischer Lehrmeinungen treibt. Ursprünglich, etwa bei Lukrez (96–55v.Chr.), sollte er vor allem das Übernatürliche aus der Welt verbannen und den Menschen die Angst vor den Göttern nehmen.
Gott, das gasförmige Wirbeltier
Zwei Jahrtausende später standen die „Naturalisten“ fest auf dem Boden der Evolutionstheorie: Für Ernst Haeckel (1834–1919), Darwin-Mitstreiter und glühender Verfechter einer materialistischen Weltanschauung, war Gott nur noch ein gasförmiges Wirbeltier. Freilich konnten Geisteswissenschaftler, Philosophen solche Auswüchse der „Naturalisierung“ belächeln, und Haeckel wurde sogar von Darwin zur Zurückhaltung gemahnt.
Aber die rasante Entwicklung der Naturwissenschaften brachte viel Unruhe über all jene, die im Menschen trotz seiner unbestreitbaren „Affenabstammung“ doch primär ein „Kulturwesen“ sehen. Wohl werden nicht viele Philosophen heute noch wie Norbert Leser der Meinung huldigen, dass Bewusstsein und Vernunft vor der Naturgeschichte da waren und Voraussetzungen der Evolution sind. Denn: Ist der Mensch ein Resultat der Evolution, dann müssen auch alle seine geistigen Eigenschaften, da von seinem Gehirn (einem materiellen Gebilde) produziert, der Evolution entsprungen sein und können nicht dieser vorgeordnet werden.
Philosophen, die keine metaphysischen Verrenkungen mehr vornehmen wollen, versteifen sich gern darauf, dass die Naturwissenschaften, da sie Kulturprodukte sind, Wirklichkeiten konstruieren. Etwa der Marburger „Kulturist“ Peter Janich: Er hält die Mendelsche Genetik, da ihre Ergebnisse an gezüchteten Pflanzen gewonnen wurden, für keine „reine Naturwissenschaft“. Ließe man dieses Argument gelten, dann wäre auch vieles an der Evolutionstheorie bloß „kultürlich“, weil Darwin die Pflanzen- und Tierzucht als wichtiges Beweismittel zuließ. Aber: Macht es denn einen so großen Unterschied, ob gezüchtete oder wilde Pflanzen zu grundlegenden Erkenntnissen verhelfen? Gelten die Mendelschen Vererbungsregeln etwa nur für die Erbsen in unseren Gärten?
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass viele Geisteswissenschaftler und Philosophen (die sich traditionsgemäß zu jenen zählen) die Grenze zwischen ihrer Zunft und der der Naturwissenschaftler um jeden Preis aufrechterhalten wollen. Dabei gibt es – „naturgemäß“, möchte ich fast sagen – viele Berührungspunkte. Bei der Rekonstruktion der Geschichte des Lebens sind Evolutionstheoretiker methodisch in einer ähnlichen Situation wie Historiker und Archäologen, also Geisteswissenschaftler. Ernst Mayr (1904–2005), mitunter als „Darwin des 20.Jahrhunderts“ bezeichnet, meinte, die Evolutionsbiologie sei über weite Strecken eigentlich eine Geisteswissenschaft. Umgekehrt erhellen Evolutionsbiologen mit Hilfe der historischen Rekonstruktion die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der Entwicklungsgeschichte des Geistes. Also, wie Rupert Riedl (1925–2005) sagte: Die Naturwissenschaften sind nicht geistlos, und die Geisteswissenschaften nicht unnatürlich.
Neue Chancen für die Philosophie
Statt Klagelieder über die „Naturalisierung des Menschen“ zu singen, sollten Philosophen ihre neuen Chancen wahrnehmen. Nicht zuletzt in der Ethik oder Moralphilosophie. Der Kantschen Frage „Was soll ich tun?“ ist die Frage voranzustellen: „Was kann ich tun?“ („Welche moralischen Fähigkeiten liegen im Bereich meiner naturgegebenen Eigenschaften?“) Wer an der Existenz vorgegebener, unwandelbarer Werte festhält, wird diese Frage als Zumutung empfinden. Wer erkennt, dass Werte und Normen vom Menschen kraft seiner Natur entwickelt und den jeweiligen Erfordernissen seiner Kultur gemäß abgewandelt werden, wird nicht nur keine Probleme damit haben, sondern in der Ethik neue Herausforderungen erkennen.
„Was kann ich tun?“ – eine umfassende Antwort ist nur aus dem Miteinander vieler wissenschaftlicher Disziplinen möglich. Aber die Frage wird unbeantwortet bleiben, wenn die Erkenntnisse der Naturwissenschaften ignoriert werden, wenn der Mensch als „reines Geistwesen“ gesehen wird, das durch die Kultur erst geformt werden kann (und muss).
Moritz Schlick (1882–1936), Vertreter des Wiener Kreises (der an der Naturalisierung des Menschenbildes nicht ganz unschuldig ist), betonte ganz richtig, dass unser Moralverhalten durch Lust- und Unlustgefühle reguliert werde, so dass die Ethik stets dem individuellen Handeln Rechnung tragen müsse. Schlick wurde erschossen – von einem weltanschaulich verwirrten Täter. Statt uns darüber aufzuregen, dass die Naturwissenschaften unseren Geist als Natur entlarven, sollten wir in Ruhe darüber nachdenken, welche Chancen sich für den Geist – und die Geisteswissenschaft – daraus ergeben.
Franz M. Wuketits, geboren 1955, Dr. phil., lehrt Wissenschaftstheorie an der Uni Wien. Etliche Bücher, zuletzt „Der Freie Wille. Die Evolution einer Illusion“ (Hirzel).
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.11.2007)