Biologie: Einzeller sind so smart!

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Ganz ohne Gehirn können einfachste Lebewesen komplizierteste Aufgaben lösen: Der Schleimpilz hat ein Gedächtnis, das Bakterium E. coli Sehergaben.

Heute: Spukhaftes. Da gibt es ein Lebewesen, das aus einer Zelle besteht, aber Zellkerne sonder Zahl hat – es kann in die Millionen gehen – und sich über enorme Flächen ausdehnen kann, der Rekord im Labor liegt bei 5,5 Quadratmeter. Das Ganze ist eine schleimige Masse, die weder zu den Tieren noch zu den Pflanzen noch zu den Pilzen gehört – auch wenn der Name so klingt, Schleimpilz, Physarum polycephalum –, sondern seit 700 Millionen Jahren eine eigene Lebensform bildet, die zu den Amöben gehört und unglaublichste Dinge kann. Wandern etwa: Wenn die Zelle Futter bemerkt, bewegt sie sich darauf zu, sie macht das mit Strukturveränderungen. Die Zelle ist von Leitungsbahnen für Futter etc. durchzogen, die können sich verlängern/verkürzen, erweitern/verengen, sie steuern beides selbst, durch Pulsieren, „pumpen“ sich groß/klein.

Amöbe sucht kürzeste Wege

Das bringt diese Amöbe auch voran, mit immerhin einem Zentimeter pro Stunde, sie kann gehen ohne Beine. Und sie kann denken ohne Gehirn. Denken? Toshiyuki Nakagaki (Sapporo) hantiert in seinen Publikationen unbefangen mit „intelligence“ und „smart“, die japanische Kultur sei nicht so auf den Menschen fixiert, erklärt er dazu. Aber auch europäische Augen gehen über: In einem seiner Experimente hat Nakagaki einen kleinen Irrgarten gebaut, mit Gängen und Holzwegen und Sackgassen, überall am Boden gut mit Futter ausgestattet. Erwartungsgemäß siedelte sich Physarum überall an. Dann ging das Futter zur Neige, es kam nur noch an zwei Orten, am Ein- bzw. Ausgang. Nun zog Physarum sich aus allen Nebengängen zurück und organisierte sich als ein Strang zwischen Ein- und Ausgang, auf dem kürzestmöglichen Weg.

Das macht das Wesen auch, wenn man es unbeschränkt in einer Petrischale wachsen lässt, an deren Rand drei Futterstellen liegen: Dann bildet es zwischen ihnen ein Dreieck und optimiert im Inneren seine Versorgungsbahnen so, dass die Zelle überall gleich gut versorgt wird. So löst diese Zelle eines der härteren Probleme der Alltags-Mathematik, das des „travelling salesman“: Das handelt vom Handlungsreisenden, der seine Ware in mehreren Städten anbieten will und den optimalen Reiseweg sucht. Der kann schon bei drei Städten schwierig werden, bei einer höheren Zahl kommen auch starke Rechner bald an die Grenzen.

Der Schleim löst das Problem, und er kann noch etwas, er hat ein Gedächtnis, das ist Nakagakis letzter Clou: Er setzte Physarum periodischem Stress aus – Trockenheit im Stundentakt, drei Mal hintereinander –, daraufhin stellte das Wesen nicht nur jedes Mal das Wachsen ein. Sondern es merkt es sich: Er hält auch nach der vierten Stunde inne – obwohl überhaupt keine Trockenheit kommt –, es tut es nach der fünften Stunde, dann verblasst seine Erinnerung. Sofern nicht nach der sechsten Stunde wieder Trockenheit kommt, einmal, es erinnert sich sofort und stellt sich wieder darauf ein (Physical Review Letters, 100, 0181001).

Bakterium sieht Mangel kommen

Er kann also aus Erfahrung auf die Zukunft schließen. Ist das nun Intelligenz? Und haben noch einfachere Lebewesen sie auch, Kolibakterien? Auch die richten sich auf kommende Dinge ein, ihre Lebensweise zwingt sie dazu. Escherichia coli pendelt zwischen extrem unterschiedlichen Welten, zeitweilig lebt es im Darm – etwa dem eines Rindes –, dann wird es ausgeschieden, fällt aufs Gras, irgendwann gerät es wieder in ein Maul. Das resultierende Problem ist noch härter als das des Handlungsreisenden, es geht um Leben und Tod: Draußen auf der Wiese gibt es Sauerstoff, drinnen im Darm gibt es keinen, E.coli muss jedes Mal den Stoffwechsel umstellen. Und es tut gut daran, das rechtzeitig zu tun: Es tut es, beim Eintritt in einen Körper, noch im Maul. Aber im Maul gibt es Sauerstoff, woher weiß es, was die Stunde schlägt? Von der Temperatur, im Maul ist es wärmer als draußen, diese Information nutzt das Bakterium zur großen Verhaltensänderung, Saeed Tavazoie (Princeton) hat es im Labor gezeigt (Science, 320, S.1313).

Das soll eine Leistung sein? Da sind wohl einfach zwei Gene miteinander gekoppelt, eines, das Wärme detektiert, und ein zweites, das den Stoffwechsel auf sauerstofffreies Milieu umstellt! Nein, Tavazoie hat noch ein Experiment gemacht, diesmal kam nach der Wärme mehr Sauerstoff, nicht weniger. Die Bakterien lernten rasch, zwar nicht individuell, aber im Kollektiv: Nach einigen hundert Generationen reagierten sie nicht mehr auf das Signal der Wärme – es signalisierte ja auch nichts mehr.

INTELLIGENZ: Wie Definiert?

In Japan ist „Intelligenz“ nicht so stark auf Menschen zentriert, das bekam Physarum-Forscher Nakagaki zu spüren, für den Intelligenz „Selbstorganisation“ ist, „in der Information verarbeitet wird“. Das kann sein Forschungsobjekt, der Schleimpilz, für Nakagaki ist er daher „intelligent“. Das brachte ihm schon Formulierungsstreit bei Kooperationen mit europäischen Forschern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2008)

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