Folgt die Sprache der Evolution?

LINGUISTIK/BIOLOGIE. Darwin sah eine „seltsame Parallele“ zwischen der Entwicklung der Sprachen und der der Arten. Ob es mehr ist als eine Parallele, ist umstritten.

Im Februar 1837 – noch vor der Reise mit der „Beagle“ – berichtete Darwin in einem Brief an seine Schwester von der Idee des Linguisten Sir John Herschel, dass alle zeitgenössischen Sprachen aus einer Ursprache hervorgegangen seien: „Jeder hat gedacht, dass sechstausend Jahre gerade die rechte Zeitspanne gewesen wären, aber Sir John denkt, dass viel mehr Zeit vergangen sein muss, seit die chinesischen und die europäischen Sprachen sich von einem Bestand getrennt haben.“ Die 6000 Jahre sind eine Anspielung auf den Bibelglauben – Bischoff James Usher hatte die Schöpfung so datiert –, und Darwin lernte von Herschel nicht nur das Denken in großen Zeiträumen, sondern auch das in Stammbäumen: Wenn man Sprachen genealogisch ordnen könne, gehe das auch bei Arten, hoffte er im „Origin of Species“, und im „Descent of Man“ konstatierte er, die Bildung von Sprachen und Arten verlaufe „curiously parallel“.

Heute gehen manche weiter und suchen gemeinsame Gesetze der biologischen und der sprachlichen – gar der gesamten kulturellen – Evolution. Evolutionsbiologe Mark Pagel (Reading) etwa tut es, für ihn lassen sich Sprachen betrachten „wie Genome“. Dann zeigen sie Ähnliches: Am langsamsten wandeln sich die Wörter, die am häufigsten gebraucht werden – Zahlwörter und Pronomen etwa –, das zeigte die Analyse von 87 indoeuropäischen Sprachen (Nature, 449, S.717). Bei den Genen ist es ebenso: Was viel gebraucht wird, bleibt lange stabil.

Allerdings gibt es in Genomen auch das gerade Gegenteil, große Sprünge („punctuated equilibrium“). Bei Sprachen gibt es das auch, Pagel hat auch das bemerkt (Science, 319, S.588). Er führt es darauf zurück, dass Sprachen sich rasch wandeln, wenn Gruppen sich aufspalten und zur Sicherung der neuen Identität auch die Sprache benutzen: Das Extrembeispiel ist in der Bibel überliefert, Richter, 12, 5: Die Männer von Gilead erkannten ihre Feinde daran, dass sie das Wort „Schibbolet“ nicht aussprechen konnten.

Diktieren die Gene das Reden...

Es gibt sie also, die „seltsamen Parallelen“ – langsamer Wandel, rasche Sprünge –, aber wo kommen sie her? Soziolinguisten haben viele Hypothesen für den Wandel der Sprache – etwa, dass die Menschen einfach so reden wie die Mehrheit um sie herum, oder, dass sie sich an Eliten orientieren –, bisher trifft keine zu. Kommt vielleicht alles direkt aus den Genen? Zwei davon, die für die Gehirnentwicklung wichtig sind – ASPM und Microcephalin –, gibt es in Varianten, die eigenartig verteilt sind: Die eine findet sich vor allem in China und im Afrika südlich der Sahara, und dort gibt es viele Lautsprachen, bei denen die Bedeutung eines Worts von seiner Betonung abhängt. In Europa hingegen und im nördlichen Afrika überwiegt die andere Variante, und in den dortigen Sprachen ist die Bedeutung eines Worts von der Betonung unabhängig, Robert Ladd (Edinburgh) hat es bemerkt (Pnas, 104, S.10944).

Heißt das nun, dass die Sprache den Genen auf dem Fuße folgt, gar von ihnen bestimmt wird? Gibt ein Gen für Chinesisch, eines für Deutsch? Mitnichten, jedes Kind – egal, wo es geboren wurde – lernt sich in die Sprache ein, in der es aufwächst.

Hier endet die Parallele: Gene passen sich an regionale Umwelten an – wer hoch im Himalaya wohnt, hat anderes Hämoglobin als einer am Meer –, das Sprachenlernen tut es offenbar nicht, es kommt mit jeder Umwelt zurecht, ein tibetisches Kleinkind lernt, wenn es an der Küste aufwächst, die dortige Sprache. Direkt an Genen liegt es also nicht, aber vielleicht gibt es eine indirekte Verbindung: Hängt die Entwicklung der Sprache allgemeiner mit der des Gehirns zusammen? Das vermutet Morten Christiansen (Cornell), aber mehr als eine Vermutung ist es nicht.

...oder organisiert Reden sich selbst?

Belege hingegen hat Simon Kirby (Edinburgh) für seinen Verdacht, Sprache und Gene seien völlig entkoppelt: Für ihn liegt das Entscheidende der Sprache nicht in der Grammatik, sondern im vokalen Lernen, der Fähigkeit, Tonsequenzen zu erinnern und zu reproduzieren: „Wir könnten einfach ein Schimpanse sein, der singen kann.“ Und dessen Gesang sich dann ganz von alleine zu Sprache organisiert. Kirby hat Testpersonen eine nicht existierende Unsinnssprache gelehrt und sie gebeten, sie weiterzulehren: Dabei zeigten sich rasch Entwicklungen, schwerer erinnerbare Worte etwa werden durch leichter erinnerbare abgelöst (Pnas, 104, S.5241). Solche Prozesse sind möglicherweise auch dort am Werk, wo gerade wirklich Sprachen entstehen: In Nicaragua und im Nahen Osten entwickeln Gehörlose seit zwei Generationen völlig eigenständige Gebärdensprachen, Kirby will an ihnen seine Hypothese prüfen.

Die stößt natürlich auf Widerspruch, weil in ihr die Evolution der Sprache mit der der Biologie überhaupt nichts zu tun hat: „Sprache hat kein unabhängiges Leben“, beharrt etwa Tecumse Fitch (St.Andrews): „Sie fällt nicht aus der Evolution heraus.“ Die Fronten sind hart, aber tertium datur: Es könnte auch sein, dass die Entwicklung der Sprache und die Evolution der Biologie einem gemeinsamen – übergeordneten – Gesetz folgen. „Es sind keine Analogien, es sind verschiedene Umschreibungen einer generellen Theorie des evolutionären Wandels“, erklärt Linguist William Croft (Albuquerque).

Liebermann stimmt mehr als zu, er will noch die Kultur insgesamt integrieren und die Entwicklung etwa der Technik oder die der Demokratie unter ein gemeinsames Dach bringen: das der „Meme“, die das kulturelle Gegenstück zu den Genen sein sollen. Das hat Richard Dawkins schon einmal versucht – von ihm stammen die „Meme“ –, er kam nicht weit. Klar ist immerhin, dass in der Geschichte der Theoriebildung Sir John zuerst kam, und dann Darwin – und dass dessen Theorie sich viel rascher entwickelte als die des Modells. Wegen Darwins Genen? Wegen seiner (großartigen) Sprache?

GESTIK ALS URSPRACHE?

Die Grammatik sitzt vor allem in einem Hirnareal namens Broca-Zentrum. Das entsprechende Areal bei Affen ist aktiv, wenn sie gestikulieren. Das spricht dafür, dass die Gestik der eigentliche Vorläufer der gesprochenen Sprache ist. Unlängst zeigten US-Psychologen, dass in Gebärdensprachen, die gehörlose Kinder von sich aus bilden, die „natürliche“ Satzstruktur vorherrscht: erst Subjekt, dann Objekt, dann Verb.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2008)

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