Atomphysik: Die große Suche nach dem Kleinsten

(c) CERN
  • Drucken

Kommende Woche geht der LHC, der größte jemals gebaute Teilchen-Beschleuniger, am Kernforschungs-Zentrum CERN in Genf in Betrieb. Man erhofft sich völlig neue Erkenntnisse. Ein Lokalaugenschein.

LHC steht für „Large Hadron Collider“. Auch wenn man sich auf den ersten Blick nichts Genaues darunter vorstellen kann, so weiß man zumindest, dass es etwas Großes sein muss. Das simple Wort „groß“ mutet in diesem Zusammenhang allerdings fast ironisch an. „Gigantisch“ wäre angebrachter.

Die Anlage befindet sich am CERN in der Nähe von Genf und nähert sich nach fast zwanzig Jahren Bauzeit der Fertigstellung. CERN ist das größte Forschungszentrum für Elementarteilchenphysik weltweit. Man blickt dort mittlerweile auf eine Tradition von über fünfzig Jahren Forschung zurück. Hier wurden nicht nur neue Teilchen entdeckt und Nobelpreis-gekrönte Arbeiten geschrieben, sondern hier wurde ganz nebenbei auch das World Wide Web erfunden.

Das aktuelle Projekt LHC ist ein Elementarteilchen-Labor von bisher beispiellosen Ausmaßen. Einmal in Betrieb werden hier hauptsächlich Protonen – jene Bausteine, die zur Gruppe der Hadronen gehören und gemeinsam mit den Neutronen die Atomkerne bilden – zur Kollision gebracht. Dabei entsteht ein Feuerwerk von verschiedensten Teilchen, die meist nur unvorstellbar kurz leben, bevor sie weiter zerfallen. Je höher die Energie beim Zusammenstoß ist, desto schwerere Teilchen können entstehen. Im Moment sind die Forscher hinter besonders massiven Teilchen her – die leichteren sind schon recht gut erforscht. Seit Jahren hinken die Labors den Theorien hinterher. Mit dem LHC soll sich das ändern.

Mehr Stahl als im Eiffelturm

Die Protonen bewegen sich in einem ringförmigen Tunnel mit 27 Kilometern Umfang, in etwa hundert Metern Tiefe, gegenläufig, in zwei getrennten luftleeren Röhren. An vier Stellen werden diese zusammengeführt, die Teilchenstrahlen kollidieren. Dort sitzen die Detektoren für die Experimente, die CMS, ATLAS, ALICE und LHCb heißen.

Ein Besuch bei den Detektoren zeigt, wie aufwendig das ist. Von der Zentrale am einen Ende des Beschleunigerringes sind es gute zehn Minuten Autofahrt bis zum CMS-Experiment auf der gegenüberliegenden Seite. Die riesige Halle, die am Horizont auftaucht, lässt den Besucher an einen Irrtum glauben. War nicht die Rede von einem wissenschaftlichen Experiment? Die Halle sieht eher aus wie ein Flugzeughangar.

Sie ist allerdings längst leer. Der Detektor wurde ebenerdig gebaut und dann in die darunter liegende Kaverne versenkt. Ein Lift bringt Forscher und Besucher hinunter. Dort steht man staunend vor einem futuristischen Apparat, 20 Meter lang, 15 Meter im Durchmesser, der die Kaverne von der Größe einer Bahnhofshalle ausfüllt. Superlative fallen ganz beiläufig. „Hier brauchten wir Material zur Abschirmung“, erklärt Michael Eppard vom CMS-Experiment. „Dieser Teil des Detektors enthält deshalb etwa 12.500 Tonnen Stahl, also mehr als der Eiffelturm.“ Eppard und seine Kollegen wissen, was sie ihren Besuchern schuldig sind.

Die Physiker vergleichen ihre Detektoren stark vereinfacht mit riesigen Digitalkameras. Wie Zwiebelschalen umhüllen sie den Ort der Kollision, um möglichst genau den dort entstehenden Teilchenschauer zu vermessen. Leider sind Protonen „schmutzig“, wie es Verena Kain, eine österreichische Physikerin am CERN, ausdrückt. „Im Gegensatz zu den Elektronen sind sie keine wirklichen Elementarteilchen, sondern aus kleineren Bausteinen zusammengesetzt, den Quarks.“ Dadurch sind die Folgen der Kollisionen heftiger – es entstehen mehr Teilchen. Es wird fast eine Milliarde solcher Teilchenkollisionen pro Sekunde geben. Die Forscher bereiten sich deshalb auf unglaubliche Datenmengen vor, die vom LHC kommen werden. Man spricht in Größenordnungen von Petabytes – ein Petabyte entspricht einer Million Gigabytes.

Kälter als im Weltraum

Der Beschleunigertunnel selbst stammt noch vom Vorgänger des LHC, dem Large Electron Positron Collider (LEP). Der LHC soll eine Kollisionsenergie der Protonen von 7 Tera-Elektronenvolt erreichen. Das wäre knapp vierhundertmal so viel wie beim LEP. Dafür wurde der Tunnel mit supraleitenden Magneten ausgestattet, verpackt in blaue Zylinder von je fünfzehn Metern Länge, die den Teilchenstrahl lenken werden. 1232 Stück gibt es davon. In den Supraleitern kann der Strom ohne Widerstand fließen – nur so ist es möglich, das nötige starke Magnetfeld zur erreichen. Jede der Spulen schwimmt in superfluidem Helium und wird auf eine Temperatur von 1,9 Grad über dem absoluten Nullpunkt gekühlt – das entspricht minus 271 Grad Celsius, das ist kälter als im Weltraum.

Die Forschungsfront hat sich in den letzten Jahren verschoben. Frühere revolutionäre Entdeckungen wie Supraleitung oder Superfluidität sind längst beherrschbar. Sie sind technologische Möglichkeiten, die hier wie selbstverständlich angewandt werden und nun den Weg bereiten für noch tiefere Einsichten in die Gesetze der Natur.

Kosten: Drei Milliarden Euro

Werner Riegler, einer der Österreicher am LHC, macht bei Führungen durch „seinen“ ALICE-Detektor auf ganz andere, unvermutete Herausforderungen bei der Installation einer solchen Anlage aufmerksam. Da hört man von Transformatoren, die in den starken Magnetfeldern nicht funktionieren, von Kabelzieh-Unternehmen, die überfordert sind, und vom Zeitdruck, weil der erste Protonenstrahl in wenigen Tagen hier durchgehen soll und die Kaverne dann geschlossen wird. Zwischendurch gibt er auf französisch einem auffällig fröhlichen Arbeiter Anweisungen, wo dieser die großen Betonklötze zur Abschirmung in Position bringen soll.

Wieder seinen Gästen zugewandt, zollt er den Arbeitern Respekt: „Die heimlichen Chefs sind die Kranfahrer.“ Sie müssen in den Kavernen auf engstem Raum sowohl Hightech-Bauteile, als auch Betonblöcke in der Größe von mehreren Telefonzellen millimetergenau in Position bringen – eine Vertrauensübung zwischen Menschen unterschiedlicher Professionen.

Drei Milliarden Euro kostet der LHC. Da stellt sich für viele die Frage nach dem Sinn. Haben wir keine bessere Verwendung für so viel Geld als ein Ding zu bauen, dessen Zweck nur ein paar Spezialisten verstehen? Abgesehen von der naturphilosophischen Motivation und dem Nutzen technologischer Spin-Offs ist die Arbeitsatmosphäre am CERN in diesem Zusammenhang bemerkenswert. Nur durch sehr hierarchische Strukturen zusammengehalten, arbeiten hier 12.000 Menschen unterschiedlichster Fachgebiete und Nationalitäten konstruktiv an einem gemeinsamen, friedlichen Ziel. Warum funktioniert es am CERN, und nur so selten in der „wirklichen“ Welt? Andererseits muss man die Kosten in der richtigen Relation sehen. Der LHC ist einzigartig auf der Welt. Wenn wir mehr über den Aufbau der Welt erfahren wollen und damit die Suche weiterführen, die in der Antike begonnen wurde, dann müssen wir uns ein solches Labor leisten, meinen Experten. Nachsatz: Ein einziges sollte allerdings genügen.

Für kommenden Mittwoch, den 10. September, ist der „Start-up“ angesetzt. Dann wird zum ersten Mal ein Protonenstrahl den ganzen Ring umrunden. Von da an wird es noch ein paar Jahre dauern, bis wir erste Ergebnisse erwarten dürfen. Dann könnte Bewegung in unser Verständnis der Materie kommen. Wir dürfen gespannt sein.

EXPERIMENTE AM LHC

Die Grenzen des StandardmodellsSeite 12
Österreichs AmbitionenSeite 12■ATLAS ist der größte Detektor am LHC. Hier wird man das sogenannte Higgs-Teilchen finden, wenn es existiert. Auch nach Supersymmetrischen Teilchen, Gravitonen und mikroskopischen schwarzen Löchern wird hier gefahndet.

CMS ist ein gleichwertiges Konkurrenzexperiment zu ATLAS und beschäftigt sich mit den gleichen Fragen. Um den Ergebnissen vertrauen zu können, sind zwei unabhängige Detektoren nötig.

ALICE beschäftigt sich mit einem Zustand der Materie, wie er Mikrosekunden nach dem Urknall existiert hat. Für Alice werden in den Detektoren keine Protonen, sondern die Kerne von Bleiatomen kollidieren. Bei der Kollision bildet sich kurzzeitig ein „Quark-Gluon-Plasma“, wie es unmittelbar nach dem Urknall existiert hat.

LHCb beschäftigt sich mit einem uner-
klärten Unterschied zwischen Materie und Antimaterie. Konkret: Warum enthält das Universum nur Materie und keine Antimaterie? Wäre es anders, gäbe es uns nicht.

ÖSTERREICH UND DAS CERN

Österreich ist sowohl am CERN im Allgemeinen als auch am LHC-Projekt beteiligt. Österreich trägt 2,2 Prozent des CERN-Budgets. Derzeit sind rund 60 österreichische Staatsbürger angestellt. Im Rahmen eines eigenen Doktoratsstudienprogramms befinden sich durchschnittlich 25 österreichische Dissertanten am CERN.

Österreichische Universitäten sind an einigen Experimenten beteiligt: Am CMS-Detektor das Institut für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, am ATLAS-Detektor das Institut für Astro- und Teilchenphysik der Uni Innsbruck und die FH Wr. Neustadt. Auch am GRID wirkt Österreich mit, einem weltweiten Computernetzwerk, das die Auswertung der Detektordaten übernehmen soll.

Auch Firmen sind am Projekt beteiligt: Porr etwa hob Schächte und Kavernen für die Experimente aus. Die Eisenstädter Firma EDV-Technik Mühlgassner baute für die Detektoren leistungsfähige Kontrollsysteme mit 1000 bis 10.000 Eingängen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.