Wissenschaftliche Publikation = systematische Übertreibung!

Von Poppers Ideal – „freier Wettbewerb des Denkens“ – sei in der heutigen Forschung wenig übrig.
Von Poppers Ideal – „freier Wettbewerb des Denkens“ – sei in der heutigen Forschung wenig übrig.(c) APA (ROBERT JAEGER)
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Forschungs-Forscher Ioannidis sieht durch die Oligopol-Bildung der Fachjournale den Popper'schen Wettbewerb des Denkens bedroht.

Wenn in Stockholm Ehre und Geld verteilt werden, gehen sie meist an angejahrte Herren. Das hat seinen guten Grund – nicht das mit dem Geschlecht, aber das mit dem Alter: Der Wissenschaftsmarkt wird überschwemmt mit Sensationen, von denen wenige der Erosion der Zeit standhalten, meist ist das Verfallsdatum kurz. Dafür werden die Waren umso lauter ausgerufen – das Englische hat das treffende Wort „touted“ –, vor allem in der Biomedizin. Ende der Achtzigerjahre versprach die Gentherapie, alle Leiden zu kurieren, Mitte der 90er war „jeder Krebs in fünf Jahren heilbar“ – durch Angiogenese-Inhibition, das Abschneiden von Tumoren von der Blutversorgung –, seit Ende der 90er regieren die embryonalen Stammzellen.

Diese beherrschen nach wie vor die Schlagzeilen, von jenen hat man lange nichts mehr gehört, dabei hatten sie starke Eröffnungen: Ausgerechnet die erste Gentherapie an Menschen gelang – genau weiß man es nicht, die Patienten wurden auch mit traditionellen Medikamenten therapiert –, aber seitdem sind tausende misslungen, und die weniger erfolgreichen hatten böse Nebenwirkungen, Tumore; auch die ersten Versuche mit Angiogenese-Inhibition gelangen, an Mäusen. An Menschen zeigten sich die Mühen der Ebene: Nicht viele Forscher halten durch, auch die Gelder suchen sich andere Felder, die Brötchen werden kleiner. (Gebacken werden sie schon noch, Angiogenese-Inhibitoren werden therapeutisch eingesetzt, nicht als Wundermittel, sondern als Ergänzung zu anderen Therapien, und auch die Gentherapie ist noch nicht ganz  tot.)

Oligopole der Fachjournale


Wie geht das zu – dass etwas hochgespielt wird und dann sanft entschlummert? –, warum wiederholt es sich, und zwar beschleunigt? Weil die Publikationspraxis ein „verzerrtes Bild dessen gibt, was in Labors und Kliniken gearbeitet wird“, erklärt John Ioannidis, im Hauptberuf Epidemiologe an der Tufts University, Boston, nebenher einer der einer der wenigen Wissenschaftler, die die Wissenschaft selbst zum Forschungsobjekt machen. Vor zwei Jahren preschte er mit der Hypothese vor, die meisten Forschungsergebnisse seien falsch – wegen der derzeitigen Struktur der Wissensvermehrung –, nun wendet er sich einem zentralen Segment von damals wieder zu,  dem Gesetz aller Gesetze in der Forschung: „publish or perish“, „veröffentliche oder verrecke“!

Aber so einfach ist das nicht, viele fühlen sich berufen, wenige werden auserwählt. Von wem? Von den Herausgebern der führenden Fachjournale, denen es laut Ioannidis gelungen ist, „Oligopole“ aufzubauen: Jedes der sieben großen Felder der Lebenswissenschaften wird von maximal sechs Journalen beherrscht – zu 68 bis 94 Prozent –, und ganz oben bei den fächerübergreifenden Journale regieren zwei, Nature und Science. Die halten den Markt eng: „Nature hat nur für etwa zehn Prozent der wöchentlich angebotenen Arbeiten Platz“, heißt es warnend/lockend in den Publikationsbedingungen von Nature, bei Science kommen gar nur „acht Prozent“ durch.

„Künstliche Verknappung“ und Verwandlung von Forschungsergebnissen in „Luxusgüter“ nannte Ionannidis das, mit amüsiertem Seitenhieb auf die Begründung: Auf dem Papier der gedruckten Journals sei einfach nicht mehr Platz! Als ob es nicht den endlosen Raum im Internet gäbe! Der allerdings hat seine eigenen Tücken, Ionannidis bilanziert: Von tausenden Arbeiten, die bisher in den Internet-Journals der BMC-Gruppe publiziert wurden, haben es nur 73 auf über 10.000 Leser gebracht.

Dieser Markt erzeugt bei den Anbietern ganz automatisch „systematische Übertreibungen“, systematische, nicht individuelle (im jetzigen Zusammenhang geht es nicht um Fälschung von Daten und dergleichen). Ioannidis begründet den Vorwurf mit einer Analogie aus der ökonomischen Theorie, der vom „Fluch des Gewinners“: Der zeigt sich auf Auktionen, wo der Meistbietende grundsätzlich zu viel bietet (und der wirkliche Wert eher dem Durchschnitt aller Gebote entspricht).

Offenbar wird auch auf dem Wissenschaftsmarkt überzogen – diesmal vom Anbieter und zu Lasten des Abnehmers –, oft werden aus kleinen Studien weitgehende Befunde abgeleitet, die obendrein mit kaum durchschaubaren statistischen Verfahren untermauert werden: Von den 49 meistzitierten Publikationen aus den Jahren 1990 bis 2004 hatte sich anno 2005 die meisten als falsch oder übertrieben erwiesen: „Publizierte Artikel, vor allem in sehr kompetitiven Journals, haben im Durchschnitt übertriebene Resultate.“

Unterdrückte Daten, Herdentrieb


Ärger noch das Gegenstück: Unpassende Daten werden kaum publiziert. Zudem gibt, wer einmal oben ist, die Richtung mit vor, „herding“: Leitwölfe können über ganze Felder bestimmen und jede Innovation ersticken (PLoS Medicine, 6. 10.). Von Poppers Ideal – „freier Wettbewerb des Denkens“ – sei in der heutigen Forschung wenig übrig, bedauert Ioannidis, hat aber wenig Rat: Es sollten nicht Arbeiten mit sensationellen Ergebnissen publiziert werden, sondern solche mit guter Methodik. jl

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.10.2008)

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