"Immer lügen, das ist zu viel": Die Drahtzieher von 1815

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Fast 30.000 Gäste soll der Wiener Kongress gehabt haben, und doch war es ein kleiner Zirkel von Politikern, die Europa neu ordneten.

Ab Mitte September 1814 traf die diplomatische Vorhut ein, am 25. dann der für die Wiener faszinierendste Gast: Alexander I., gemeinsam mit dem Preußenkönig. Am Ende waren es insgesamt 30.000 Gäste, die für den größten Friedenskongress aller Zeiten zumindest zeitweise nach Wien gekommen waren. Nie haben so viele Monarchen so lange so eng beieinander gewohnt wie vor 200 Jahren monatelang in Wien: Zwei Kaiser, zwei Kaiserinnen, vier Könige, eine Königin, dazu Kronprinzen, Großfürstinnen, Prinzen wohnten in der Hofburg, die Delegationen mieteten sich mangels Hotels in Wiener Palais ein.

Diese fast neun Monate, in denen Wien zur Weltstadt wurde, lebten in unzähligen Anekdoten und Mythen bei den Österreichern weiter. Die meisten Geschichten ranken sich um Schlüsselfiguren des Kongresses. Trotz des Gewimmels an Teilnehmern und Beobachtern waren es im Grunde nur eine Handvoll Menschen, die hier nach einem Vierteljahrhundert Krieg und der Niederlage des großen „Störenfrieds“ Napoleon am Ballhausplatz und anderen Verhandlungsorten über die friedliche Neuordnung Europas entschieden, die im Großen und Ganzen ein Jahrhundert halten sollte. Sie hatten ein gemeinsames Interesse – Stabilität durch Solidarität der Dynastien und Gleichgewicht der Großmächte – und einen gemeinsamen Feind: alles Revolutionäre.

  • Zar Alexander I.: Der Stargast

Keinen umschwärmten die Wiener so wie den damals 36-jährigen Zar Alexander I. 1814 hatte er noch den Ruf eines liberalen Reformers, den er später verlieren sollte. Er hatte Wien als Ort für den im Ersten Pariser Frieden beschlossenen „allgemeinen Kongress“ vorgeschlagen, und die Bevölkerung war von ihm begeistert: weil er äußerst attraktiv und charmant war, weil er so viel tanzte und mit seinen Frauengeschichten für Unterhaltung sorgte (zumal den allgegenwärtigen österreichischen Spitzeln nichts Privates entging).

Auf keiner Reise habe er sich so wohlgefühlt wie hier in Wien, sagte er. Er empfand den Aufenthalt sichtlich als Urlaub von den Zwängen des Hoflebens. (Weniger beliebt war sein kindischer Bruder, der sich etwa im Inneren Burghof versteckte und mit „Wache heraus!“-Rufen die Wachposten ärgerte.)

Sein Delegationsleiter, der 34-jährige Robert Karl Nesselrode, konnte weitaus weniger selbstständig agieren als andere Delegationsleiter, weil der bestens Deutsch und Französisch sprechende Zar in den Verhandlungen stark präsent war. Näher besehen wirkte er auf viele geistig mittelmäßig (wie schon auf Napoleon, der sagte, es fehle diesem in allem „ein Etwas“). Er wollte ein slawisches Großreich und hatte ein paar wenige „fixe Ideen“, wie es der französische Historiker Thierry Lentz in seinem neuen Buch „1815“ ausdrückt: „Das Land, das für den Sieg über Napoleon die größten Opfer gebracht hatte, sollte nun auch die größten und schönsten Früchte ernten.“

Alexander hatte enge familiäre Verbindungen zu Deutschland und spielte den Schutzherrn der Preußen. Mit Metternich dagegen stritt er dauernd, kein Wunder: Die Interessen der zwei Frauenhelden kreuzten sich auch amourös.

  • Talleyrand: Der gerissene Verlierer

„Sie waren doch schon einmal hier in Wien, mein Herr?“ – „Ich habe mein möglichstes getan, um es zu vergessen, Madame.“ Diese Anekdote passt zu der lange Zeit markantesten Figur der französischen Politik. Der Bischof und Staatsmann war 1814 unter dem dritten Regime tätig (drei weitere folgten). Im Gefolge Napoleons (der ihn einen „Haufen Scheiße in Seidenstrümpfen“ nannte) war er 1805 in Wien eingezogen, nach dessen Sturz unter dem Bourbonenkönig Ludwig XVIII. Außenminister geworden. Trotz seines Klumpfußes wirkte er elegant, gleichzeitig war er arrogant, geistreich und ein genialer Taktiker und Manipulierer.

Frankreich war besiegt, man hätte sich Demut erwartet, stattdessen trat der „Voltaire der Diplomatie“ (Goethe) erfolgreich als gleichrangiger Verhandlungspartner auf. Als sich die „Großen Vier“ in einem der ersten Sitzungsdokumente als „Verbündete“ bezeichneten, schalt er: „Gegen wen sind Sie verbündet? Gegen Napoleon? Der sitzt in Elba! Gegen Ludwig XVIII.? Der ist Ihr Verbündeter!“ Er bat um große Rücksichten für Frankreich, „damit Sie es nicht unterschätzen“. Seine Taktik war es, für das „Legitimitätsprinzip“ und den Vorrang des „Rechts“ zu kämpfen, gegen die bloße Macht des Stärkeren. Das „erlaubte es ihm“, meint sein Landsmann Thierry Lentz, „sich in das diplomatische Spiel einzuschleichen, die Rationalität zu betonen, nur um sie über den Haufen zu werfen, wann es ihm passte“.

Talleyrand war auch Meister darin, seine Verhandlungspartner zu verwirren und die Risse zwischen den „Großen Vier“ (v. a. zwischen England und Österreich auf der einen, Russland und Preußen auf der anderen Seite) zu nutzen. Kein Wunder, dass von ihm amüsante Definitionen der Diplomatie geblieben sind, etwa die folgende, die wie maßgeschneidert für seine Wiener Auftritte wirkt: Diplomatie sei „die Kunst, einem anderen so lange auf die Zehen zu steigen, bis dieser sich entschuldigt“. Allerdings blieb von seiner Rolle in Wien nicht nur die des schlauen Fuchses, sondern auch, dass er mit seiner „Erfindung“ des Legitimitätsprinzips das Völkerrecht weiterentwickelte.

  • Metternich: Österreichs Moderator

Wie der österreichische Kongressleiter, der eigentlich Deutscher und im Rheinland aufgewachsen war, Zeit für so viel Diplomatie und für zahlreiche Liebesaffären fand, erklärte er so: „Ich mache nichts, was andere auch machen können.“ Seine Karriere hatte den Fürsten mit fast allen führenden Köpfen der Politik bekannt gemacht, in Berlin hatte er Zar Alexander kennengelernt, in Frankreich Talleyrand und Napoleon (Letzterer soll über ihn gesagt haben: „Jeder lügt ein paarmal, aber immer lügen, das ist zu viel.“). Metternich, dem Kaiser Franz I. voll vertraute, war schon 1814 reformfeindlich. Er wollte ein europäisches Gleichgewicht der Souveräne mit einem starken Österreich.

  • Hardenberg: Der deutsche Realist

Die preußische Delegation galt als die größte und fleißigste. König Friedrich Wilhelm III., „eine Gestalt wie aus der Rüstkammer“, repräsentierte nur und überließ, anders als der Zar, das Verhandeln seinem Außenminister und Staatskanzler, Karl August Fürst von Hardenberg. Diesem „großen Alten mit dem Haar aus Schnee“ gelang es 1815, Preußen große Gebiete zu verschaffen. Nach dem Kongress schuf er dort eine neue Verwaltung, brachte den Preußenkönig auch zum Versprechen, eine Verfassung zu erlassen, und gilt heute als großer Staatsreformer.

  • Castlereagh: „Lord Pumpernickel“

Von den Feinheiten der Etikette hatte der englische Delegationsleiter keine Ahnung, seine Frau wurde ob ihrer „lächerlichen“ Kleidung verspottet und weil sie sich den Hosenbandorden ihres Mannes als Schmuck ins Haar steckte. Aber auch wenn die Engländer unbeholfen durch die kontinentale Intrigenwelt und deren mondäne Sitten stolperten: Robert Stewart, Viscount Castlereagh, spielte eine wichtige Rolle für den Kongress-Erfolg. Schon vorher hatte er großen Anteil am Plan, die Neuordnung Europas den Besiegern Napoleons zu überlassen. Als Delegationsleiter war er weisungsfrei und selbstständig. Castlereagh wollte das durch Frankreich und Russland bedrohte Gleichgewicht wiederherstellen, den Verlierer Frankreich aber einbinden anstatt auszuschließen.
Genau das sehen Historiker heute als große Leistung des Wiener Kongresses – vor allem im Gegensatz zur fatalen Demütigung Deutschlands im Versailler Vertrag rund 100 Jahre später. ?

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