Als es den Bürger Karl Marx unter die Arbeiter verschlug

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Genau heute vor 150 Jahren wurde in London die Erste Internationalegegründet, eine Föderation, um die Wünsche, Hoffnungen und Aktivitäten der Arbeiterbewegungen zu vereinen. Karl Marx rackerte sich für sie ab, doch ihr Scheitern war unausweichlich.

Auf den ersten Blick kommt es einem vor wie ein skurriler Spaß der Geschichte: Eine Bewegung, die als die „Internationale“ in die Annalen eingegangen ist, wurde vor 150 Jahren in einem Land gegründet, wo das insulare Bewusstsein und die Verachtung all dessen, was sich jenseits der Meerenge auf dem „Kontinent“ abspielt, tiefe historische Wurzeln hat. Gemeint ist das Volk der Briten. Auf den zweiten Blick sieht alles ganz anders aus: In der Mitte des 19. Jahrhunderts flohen radikal denkende Emigranten aus allen europäischen Ländern vor politischer Verfolgung in ihren Heimatländern ins liberalere England. Das Land besaß zudem die erfahrenste und älteste Arbeiterbewegung der Welt, sie war organisiert in den Trade Unions, die imstande waren, Massenkundgebungen von Arbeitern auf die Beine zu stellen.

Die hochpolitisierte Arbeiterschaft Englands entwickelte ein Gespür dafür, dass sie von politischen Problemen im In- und Ausland gleichermaßen tangiert wurde, sie begann international zu denken. Mit großen Kundgebungen demonstrierten britische Arbeiter für die Anliegen von Präsident Abraham Lincoln im Amerikanischen Bürgerkrieg. Obwohl der Krieg jenseits des Atlantiks durch ausbleibende Baumwolllieferungen zu einer erheblichen Krise in der englischen Textilindustrie und zu Massenentlassungen führte, gingen die Trade Unions hartnäckig für ein politisches Prinzip auf die Straße: für die Abschaffung der Sklaverei, gegen einen Kriegseintritt Englands auf Seiten des amerikanischen Südens.

Als Giuseppe Garibaldi, der Befreier Italiens, nach London kam, wurde er von fünfzigtausend jubelnden Demonstranten begrüßt. Auch die Kundgebungen für die polnische Befreiung von der zaristischen Unterdrückung wurden auf den Straßen Londons mit derselben Emotionalität ausgetragen: eine neue internationalistische Zeitströmung, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Methodistenbewegung und ihres Kults weltweiter Brüderschaft. Die Bereitschaft zu internationaler Solidarität entsprang dem Grundgefühl, dass alle Opfer derselben Ausbeutung seien. Und es gab auch ein unmittelbares Eigeninteresse der britischen Trade Unions: Durch den Aufbau eines internationalen Solidaritätsnetzwerkes sollte der unerwünschte Import von Streikbrechern und Billigarbeitern vom Kontinent verhindert werden.

Kopf- und Handarbeiter. Nicht träumen lassen hätte sich wohl Napoleon III., der Kaiser der Franzosen, dass er mit einer freundlichen Geste unfreiwillig bei der Gründung der Internationale der Arbeiterschaft mitgeholfen hatte. Er finanzierte die Reise einer Delegation französischer Arbeiter zur Weltausstellung 1862 in London, die sich mit englischen Gewerkschaftern solidarisierten, gemeinsame Interessen entdeckten und eine neue Achse über den Ärmelkanal schmiedeten, die in einem großen internationalen Meeting am 28. September 1864 in London gekrönt werden sollte. Als Ort wurde die Saint Martin's Hall ausgewählt, eine alte Music-Hall unweit von Covent Garden, die nach einem Brand zwei Jahre zuvor wieder aufgebaut worden war. Gewöhnlich fanden hier Konzerte statt, gelegentlich auch Lesungen, Charles Dickens konnte gewonnen werden für eine Charity-Lesung zu Gunsten eines Kinderspitals, manchmal diente die Halle auch politischen Kundgebungen.

Am 28. September 1864 trafen hier 2000 Kongressteilnehmer in dem durch Gaskandelaber erleuchteten Konzertsaal ein.

Als Vorsitzenden des Kongresses hatte man einen mehr als honorablen Mann gefunden: Edward Spencer Beesley war Professor für Geschichte und Latein am Londoner University College, der erste Hochschullehrer, der in der Arbeiterbewegung aktiv wurde. Der neue Zusammenschluss, der hier beschlossen werden sollte, die Internationale Arbeiterassoziation (IAA), verdiente ihren Namen natürlich nur, wenn es mehr als nur britisch-französische Delegierte gab. Daher suchte man noch kurz vor Kongressbeginn zumindest einige Symbolfiguren aus anderen Ländern. So klopften die Organisatoren in allerletzter Minute noch an die Tür eines Hauses in der Londoner Maitland Park Road, wo ein Mann lebte, der vielleicht jemanden kennen konnte, der als Sprecher der deutschen Arbeiterschaft in Frage kam: Karl Marx. Marx selbst galt ihnen als bürgerlicher Intellektueller, ein Kopfarbeiter, der acht Stunden am Tag in der British Library saß und studierte, kein Handarbeiter. Aber die proletarische Reinheit war ja auch durch den Universitätsprofessor schon etwas verwässert, und so kam es, dass während des gesamten Kongresses ein stummer Marx mit auf dem Podium saß. Er ergriff bei der konstituierenden Sitzung der IAA kein einziges Mal das Wort, doch am Ende zeigte er sich tief beeindruckt und schrieb enthusiastisch an Engels, dass er soeben ein „revival of the working classes“ miterlebt habe.

Marx in Hochform. Welche Gründe es auch gegeben haben mag, Marx einzuladen, es hatte jedenfalls weitreichende Folgen. Der Verfasser des „Kommunistischen Manifests“ hatte sich zuletzt ausschließlich mit theoretischen Arbeiten, seiner Analyse des Kapitalismus, beschäftigt, schlagartig waren nun die Jahre politischer Untätigkeit für ihn zu Ende. Marx nahm eine gewaltige Arbeitslast auf sich. Er wurde in die Programmkommission der IAA berufen, um die Statuten auszuarbeiten, als Theoretiker war ihm niemand in der Vereinigung gewachsen, er wurde der intellektuelle Kopf im Führungsgremium, dem Generalrat. Ungeachtet der Maxime, dass die Mitglieder und Funktionäre Arbeiter sein sollten, wurde er als „the right man on the right place“ akzeptiert, zumal niemand außer ihm imstande war, ein Programm auszuformulieren. In den Jahren der politischen Inaktivität hatte Marx seine alten Verfahrenstricks im Umgang mit politischen Komitees nicht verlernt, in kleineren Gruppen lief er zur Hochform auf, und wenn spätabends die übermüdeten Arbeiter immer wieder gähnen mussten, übernahm er die Ausformulierung der Präambeln. So kam das politische Manifest „an die arbeitende Klasse Europas“ zustande, das später als die „Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation“ bekannt wurde und von Marx in den letzten Oktobertagen 1864 im Alleingang geschrieben worden war.

Das Dokument ist kein neues „Kommunistisches Manifest“, obwohl es auch mit dem Satz „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ endete. Marx wusste, dass er seine britischen „Arbeiterkönige“ politisch nicht überfordern durfte, sie waren weder Revolutionäre noch Sozialisten. So musste er darauf Rücksicht nehmen, dass er es mit einer Gewerkschaftsbewegung zu tun hatte, die interessiert war an Sozialreformen, einem kürzeren Arbeitstag, der Beschränkung von Frauen- und Kinderarbeit. Doch die zurückhaltenden Formulierungen in dem Dokument, der Verzicht auf revolutionäre Rhetorik, auf die „Kühnheit der Sprache“, hatten auch andere Gründe. Der fast „kindliche Enthusiasmus“ der Revolutionsära von 1848 war anscheinend ein für alle Mal „zum Teufel“, angesichts der Wirtschaftskrise der Jahre um 1860 hätte die Revolution schon längst ausbrechen müssen.

So eroberte sich Marx seine Führungsposition in der IAA nicht als Revolutionär, sondern als Theoretiker von Anliegen einer realitätsnahen Gewerkschaftspolitik. Der revolutionäre Ausgang nach einer Phase gesellschaftlicher Reformen war damit nicht aufgegeben.

Die Bakuninbande. Bekannt wurde die IAA allgemein als Erste Internationale, eine retrospektive Namensgebung, die sich ergeben hatte nach der Gründung der heute noch existierenden Zweiten oder Sozialistischen Internationale 1889 sowie der Dritten oder Kommunistischen Internationale 1919, die offiziell 1943 aufgelöst wurde. 1938 kam die Vierte (trotzkistische) Internationale. Der Unterschied der Ersten Internationale zu diesen späteren Formationen sozialistischer bzw. kommunistischer Parteien ist beträchtlich. Die IAA war eine lose Föderation unterschiedlichster Arbeitergesellschaften, die sich Gedanken machten, wie die Emanzipation des Proletariats zu bewerkstelligen sei, und wie der richtige Weg zu einer befreiten und gerechten Gesellschaft sein könnte. Als Sammelbecken hatte sie mörderische Kontroversen über den „richtigen Weg“ auszuhalten, intrigenreiche Auseinandersetzungen, Grabenkämpfe, die schließlich auch zu ihrem Untergang führten.

Marx hatte ja schon Schlimmes geahnt, als er 1864 nach sechzehn Jahren erstmals wieder mit Michail Bakunin zusammentraf. Zu seinem Entsetzen stellte der russische Anarchist einen Antrag auf Aufnahme seiner Bewegung in die IAA. Utopisten, Pazifisten, leicht entflammbare Revolutionäre der romanischen Länder und disziplinierte britische Gewerkschafter unter einen Hut zu bringen, all das war Marx ja noch gelungen, aber die aktionistische sozialdynamische Revolutionsauffassung der Bakuninisten, die nur im Barrikadenkampf die Revolution sahen und jede Institutionalisierung ablehnten, begann die Bewegung von innen aufzusprengen. 1872 wurde die „Bakuninbande“ ausgeschlossen und der Generalrat nach New York verlegt, ein vergeblicher Rettungsversuch, er bedeutete das Ende der Ersten Internationale.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.09.2014)

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