Theater an der Wien: Das Jesuskind als Leinenhemd

(c) Holger Badekow
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Der Engel ist von überirdischer Zweifaltigkeit, auch der Stern erscheint vervielfacht: John Neumeiers Ballett zu Bachs „Weihnachtsoratorium“.

Ein wenig langwierig ist die Sache schon. Und die Frage, welcher Regisseur einst die Szene mit den Koffer schleppenden Menschen auf die Bühne gebracht hat, stellt sich wieder einmal – er gehört rückwirkend von einem Musiktheatergericht zur ewigen Wanderschaft auf dem neuen Zentralbahnhof verurteilt.

Aber John Neumeiers Choreografie zu Bachs sechs Kantaten, die man später Oratorium genannt hat, um sie an einem Abend aufzuführen, hat auch ihre Meriten. Aus der Geschichte vom Jesuskind, den Heiligen Drei Königen und dem König Herodes blitzen zwar nur einzelne Aspekte auf. Und wo sie konkreter werden, etwa bei den drei Weisen aus dem Morgenland, wird es eher plakativ.

Wo Neumeier jedoch allgemein menschliche Szenen modelliert, findet er zu berührenden Bildern unserer Zweifel, Ängste, Wunschträume. Das ist es wohl, was er im spirituellen Kontext erzählen möchte – und wozu ihm der Arnold Schoenberg Chor, vier junge, gradlinig singende und deutlich artikulierende Gesangssolisten und das Wiener Kammerorchester unter Erwin Ortner zügig und kraftvoll die Musik beisteuern.

Die Länge des Unterfangens verleitet Neumeier freilich zu einer gewissen Weitschweifigkeit, die sich vor allem darin äußert, dass die Bühne häufig übervölkert ist. Kaum eine der ausdrucksstarken Soli, Pas de deux oder Pas de trois darf unverbrämt zu Ende kommen – stets mischen sich zusätzliche Tänzer oder das ganze Corps de Ballet ins Spiel, verdoppeln und vervielfachen die Bewegungsabläufe. Selbst der Stern von Bethlehem erscheint multipliziert am Himmelszelt.

Maria und Josef sind, damit es nicht zu biblisch wird, zu „die Mutter und ihr Mann“ stilisiert, ihr Kindlein wird nur durch ein Leinenhemd symbolisiert. Dafür wandert ein Unbekannter durch die Lande, der den ganzen langen Abend lang vergeblich versucht, in Ruhe einen Christbaum aufzustellen. Immer fegen die Zeitläufte über ihn und sein gutes symbolisches Werk hinweg. Zu Neujahr – wenn die Musik das Fest der Beschneidung Christi zelebriert – kommen manche auf der Szene in Faschingsstimmung, aber die wirklich gute Laune stellt sich erst zuletzt ein, wenn offenbar wird, dass der Wanderer dem verfolgten Elternpaar Mantel und Jacke spendiert, sobald sich dieses auf den Weg macht, „jahrlang ins Ungewisse hinab . . .“

Die „erlöste Schar“ jubiliert derweilen, und der Wanderer jubiliert zuletzt mit ihr. Die eruptiven, reich bewegten „Freudenchöre“ ziehen sich denn wie ein Rondo-Thema durch den Abend – statt Bachs Schlusschor erklingt der Eingangschor von Nummer eins folgerichtig als Finale erneut. Am schönsten gelangen Neumeier die ätherischen Auftritte des Engels, der von überirdischer Zweifaltigkeit ist: Silvia Azzoni und Alexandr Trusch schweben wie Sylphiden aus einer besseren Ballettwelt einher, in der man noch zu Chopin-Walzern tanzen durfte. Die Hauptdarsteller (Anna Laudere, Lloyd Riggins und Karsten Jung) müssen sich schwerfälliger durch irdische Mühsal quälen, tun das aber – wie die ganze Hamburger Compagnie – mit bewundernswerter Hingabe.

Demnächst: „Josephs Legende“

Das nächste biblische Neumeier-Abenteuer folgt übrigens auf dem Fuß: Die Staatsoper nimmt Richard Strauss' „Josephs Legende“ (nebst einer für Wien neuen Umsetzung der Couperin-Arrangements „Verklungene Feste“) wieder ins Repertoire – oder genauer, sie studiert die Hamburger Neufassung ein, die Anfang Februar Premiere haben wird. Schade, dass man auf die Ernst-Fuchs-Ausstattung verzichtet, die zu den großen Erinnerungen der Wiener Ballettgeschichte gehört. Aber immerhin: Eine der erfolgreichsten Wiener Tanzkreationen erlebt ihre Wiedergeburt.

Vorerst einmal gibt es aber das „Weihnachtsoratorium“ im Theater an der Wien. Reprisen am 19. und 20. Dezember.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2014)

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