Am schwersten wiegen die Probleme, die wir gar nicht haben

Berlin Aktivisten verschiedener Organisationen demonstrieren am Montag 23 02 2015 vor dem Willy B
Berlin Aktivisten verschiedener Organisationen demonstrieren am Montag 23 02 2015 vor dem Willy B(c) imago/CommonLens (imago stock&people)
  • Drucken

Die Deutschen beklagen eine Investitionslücke, die es nicht gibt, und dass reguläre Jobs zurückgehen, was nicht stimmt. Und wir? Hassen TTIP.

Die medialen Spatzen pfeifen es von allen Sendemasten: Deutschland lebt von seiner Substanz – auch wenn auf den Fotos immer dieselbe bröckelnde Brücke zu sehen ist. Jedenfalls ergreift die Große Koalition jetzt angesichts der akut gefühlten Gefahr beherzt die Initiative. Diese Woche fand dazu in Berlin eine große Konferenz statt, mit Vizekanzler Gabriel und dem Finanzminister. Nur wollte sich der alte Fuchs Schäuble, immer gut für peinliche Szenen, dem Tatendrang nicht fügen. Die viel beklagte Investitionslücke, erklärte der Spielverderber, gebe es gar nicht.

Unerhört! Und wahr. Hinter vorgehaltener Hand erzählen auch deutsche Wirtschaftsweise, wie die Sache ins Rollen gekommen ist. Die SPD forderte im letzten Wahlkampf aus alter Gewohnheit höhere Steuern, tat sich aber angesichts von Rekordeinnahmen des Fiskus mit der Begründung schwer. Also gab sie inoffiziell beim DIW eine Studie in Auftrag. Die Fragestellung: ob man nicht unbedingt mehr in die Infrastruktur investieren müsse.

Das größte Wirtschaftsforschungsinstitut der Republik stellte sich gern der Herausforderung. Auf die Schnelle reichte es nur für eine etwas windige Studie. Aber gottlob nahm sich der „Spiegel“ der Sache an. In einer katastrophisch gestimmten Aufmacherstrecke informierte das Magazin über ein gigantisches Loch an unterlassenen Investitionen. Die 80 Mrd. Euro bezog das DIW freilich auf die ganze Volkswirtschaft, vor allem auf den Privatsektor. Im „Spiegel“ wurde daraus flugs eine 80-Milliarden-Lücke allein in der staatlichen Infrastruktur.

„Da haben sich Ihre Kollegen natürlich geirrt“, erklärte der Studienautor damals der „Presse“. Aber was soll's, der Wahlkampfschlager war geboren. DIW-Chef Fratzscher leitet nun eine Kommission zum Thema und ist zum obersten Berater von Wirtschaftsminister Gabriel avanciert. Inzwischen hat sein Institut eine differenziertere Rechnung angestellt, die dennoch von Bundesbank und Sachverständigenrat rauf- und runtergeprügelt wird. Ketzer Schäuble hat also Rückendeckung.

Aber man kann Steuergeld ja auch anders verwenden. Zum Beispiel für mehr Umverteilung – weil angeblich immer mehr Menschen in prekären Jobs landen, von denen sie nicht leben können. So tönte es auch diese Woche aus den Agenturen. Praktischerweise gleich übernommen von einer Aussendung der ex-kommunistischen Linkspartei. Sie hat die atpyische Beschäftigung in einen atypischen Vergleich gepackt: heute zu 1992. Nur wer genau hinsieht, dem wird klar: Seit 2005 steigen Zahl und Anteil der voll sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjobs wieder kräftig – just seit jenem Jahr, in dem Hartz IV in Kraft getreten ist. Also jene Liberalisierung des Arbeitsmarkts, mit dem das Übel erst richtig begonnen haben soll. Die durch hunderte Talkshows gut konditionierten Deutschen aber heulen auf – über ein Problem, das zehn Jahre zurückliegt.

Und nie ein so großes war: Zu 70Prozent geht es um mehr Teilzeitjobs. Vier von fünf „Betroffenen“ arbeiten freiwillig kürzer, meist Frauen, die heute stärker am Erwerbsleben teilnehmen als vor einem Vierteljahrhundert. Wir danken für die neue Erkenntnis – und nehmen uns an der Nase: Die Österreicher sind die schärfsten TTIP-Gegner. Aber dass die EU-„Geheimverhandler“ ihre Dokumente längst ins Netz stellen, nutzen im Schnitt nur etwa fünf interessierte Österreicher pro Tag. Zum Vergleich: Der „Presse“-Aprilscherz zum Schnitzelverbot schaffte es gleich auf 111.000 Klicks. Freilich ging es auch da um das Phantom eines Problems. Also das, worüber wir uns am liebsten aufregen.

karl.gaulhofer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.04.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.