Türkei: Erdoğan startet Wahlkampf für Präsidialsystem

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Mit religiösen Sprüchen und nationalistischen Tönen stimmt der Präsident sein Land auf eine mögliche Volksabstimmung ein, die ihm mehr Macht einräumen soll. Die EU muss sich auf scharfe Rhetorik gefasst machen.

Istanbul. Wenn Recep Tayyip Erdoğan islamisch-nationalistische Töne anschlägt, liegt das meist nicht an einer Laune des türkischen Präsidenten, sondern an politischen Überlegungen. Derzeit macht der 62-Jährige wieder einmal mit religiösen Formeln von sich reden. So sagte er, keine richtige muslimische Familie werde sich mit Geburtenkontrolle abgeben. Nur die Vorgaben Gottes und des Propheten Mohammed zählten. Gleichzeitig geißelte er die „Technologie-Sucht“ als Laster der modernen Zeit.

Nur wenige Tage vor seinem Hinweis auf die Tugendhaftigkeit von ungeschütztem Sex hatte der Präsident die Anhänger der Kurdenbewegung in der Türkei als „Atheisten und Jesiden“ beschimpft und damit als Ungläubige hingestellt. In einer Rede zum Jahrestag der Eroberung des heutigen Istanbul durch die muslimischen Osmanen im Jahr 1453 betonte Erdoğan, mit der Einnahme der damaligen Hauptstadt des christlichen Byzantinerreichs hätten die Osmanen „Mauern des Westens überwunden, die als unüberwindbar galten“.

Diese Art von Rhetorik kommt gut an bei der Basis der Erdoğan-Partei AKP, die viele islamisch-konservative Anatolier zu ihren Wählern zählt. Das Fußvolk war zuletzt durch Erdoğans unsanften Rauswurf für Ministerpräsident Ahmet Davuto?lu verunsichert worden.

„Terror-Gruppe“ von Gülen

Doch für den Präsidenten geht es nicht nur darum, die eigenen Anhänger zu beruhigen. Der türkische Staatschef hat mit den kernigen Sprüchen auch den Wahlkampf vor einer möglichen Volksabstimmung über das von ihm angestrebte Präsidialsystem begonnen. Bei einem Referendum braucht Erdoğan mehr als 50 Prozent der Stimmen. Teil dessen ist es auch, Kritiker abzustellen: Die religiöse Bewegung seines Widersachers Fethulla Gülen will Erdoğan zur terroristischen Gruppierung erklären lassen, wie am Dienstag bekannt wurde.

Davutoğlus Nachfolger als Premier, Binali Yildirim, hat den Übergang zur Präsidialrepublik zur höchsten Priorität erklärt. Doch längst nicht alle Türken sind begeistert. Die Opposition schimpft ohnehin über Erdo?ans geplantes „Ein-Mann-System“, über das bisher keine Details bekannt sind. Sicher ist nur, dass er ein starkes Präsidentenamt mit weitreichenden Vollmachten anstrebt. Doch wie die Macht des Staatsschefs von anderen Institutionen kontrolliert und im Zaum gehalten werden soll, ist völlig unklar. Regierungssprecher Numan Kurtulmuş trug nicht gerade zur Beruhigung von Kritikern bei, indem er erklärte, auch die Justiz sei dem Präsidenten unterstellt.

Im Parlament hat Erdoğans AKP derzeit noch nicht die erforderliche Mehrheit von mindestens 330 Sitzen, um eine Volksabstimmung über das Präsidialsystem ansetzen zu können. Laut Berichten hofft Erdo?an, Abgeordnete der rechtsgerichteten Oppositionspartei MHP für sich gewinnen zu können. Auch das ist ein Grund dafür, dass er jetzt mit so viel Verve die islamisch-nationale Karte spielt.

Dass auf die Äußerungen des Staatschefs konkrete Gesetzesänderungen – etwa im Bereich der Geburtenkontrolle – folgen, ist dagegen nicht zwingend. Schon früher hatte er gegen die in der Türkei legale Abtreibung gewettert. Auch die Kritik an der angeblichen „Technologie-Sucht“ ist als Wahlkampf-Stilmittel abzubuchen: Der Präsident will bis 2020 mehr als zehn Millionen Tablet-Computer an die Schüler des Landes verteilen lassen.

Trotz solcher Widersprüche dürften die Aussagen des Präsidenten nicht die letzten ihrer Art gewesen sein. Am Dienstag warnte Erdo?an die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, vor einem Schaden in den bilateralen Beziehungen wegen der für Donnerstag geplanten Abstimmung über eine Armenier-Resolution im Bundestag, die die Massaker vor 100 Jahren als Völkermord einstuft. Schärfere Töne dürften folgen, auch im Visumstreit mit Brüssel. Der Wahlkampf von Erdoğan hat gerade erst begonnen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2016)

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