Die atomare Initialzündung für Prognosen

U.S. Navy file handout image shows Baker, the second of the two atomic bomb tests, in which a 63-kiloton warhead was exploded 90 feet under water as part of Operation Crossroads, conducted at Bikini Atoll
U.S. Navy file handout image shows Baker, the second of the two atomic bomb tests, in which a 63-kiloton warhead was exploded 90 feet under water as part of Operation Crossroads, conducted at Bikini AtollREUTERS
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Die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki im August 1945 stellten eine Zäsur für die Menschheit dar. Um solche Ereignisse zu verhindern, konzentrierten sich Soziologen von da an stärker auf Vorhersagen.

Die Atombombe. Kaum ein Bild beschreibt das 20. Jahrhundert auf derart vielschichtige Weise, wie jenes, das einen sich unaufhaltsam ausbreitenden Atompilz zeigt. Sein Abbild steht für Tod, Zerstörung, totalen Krieg, Apathie und Unmenschlichkeit. Gleichzeitig ist „die Bombe“ die Ultima Ratio hoch entwickelter Heere, Symbol der Macht, des Fortschritts und der Wissenschaft: „Wissenschaftler waren am Beginn des Kalten Krieges – auch für diesen steht die Atomwaffe – so etwas wie die neuen Heroen der Menschheit“, sagt Christian Dayé, Soziologe an der Uni Klagenfurt.

Dayé näherte sich mit seinen Kollegen Christian Fleck und Matthias Duller von der Uni Graz auf eine andere Weise dem atomaren Zeitalter. Im vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt „Die Erfindung und Diffusion sozialwissenschaftlicher Methoden im Kalten Krieg“ betrachteten sie die damals neu entwickelten Modelle für Zukunftsprognosen in den Sozialwissenschaften. Entwickelt wurden diese, um gesellschaftliche, politische und ökologische Entwicklungen genauer, und vor allem wissenschaftlich begründet, vorhersagen zu können.

Die Bombe und die Denkfabrik

Dafür entstand im kalifornischen Santa Monica 1947, also zwei Jahre nach den Abwürfen der Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki, eine eigene „Denkfabrik“: Die Research ANd Development Corporation, kurz RAND. „Diese wird zuweilen als Prototyp aller Think Tanks bezeichnet“, sagt Dayé. RAND war eine Forschungseinrichtung der US-amerikanischen Luftwaffe und des Flugzeugherstellers Douglas. Die RAND Group existiert bis heute, mit Standorten in Arlington (Virginia), Pittsburgh (Pennsylvania), New York City, Cambridge (England) oder Doha (Katar).

RAND entwickelte unter anderem drei neue Prognosemethoden, die bis heute angewendet werden: Die Delphi-Befragung, das Political Gaming (oder Planspiel) und die Systemanalyse. Bei der Delphi-Methode werden standardisierte Fragebögen an Experten geschickt, die Zukunftsprognosen abgeben. In mehreren Durchgängen müssen sie dieselben Fragen beantworten, wobei sie ab der zweiten Runde wissen, wie die jeweils anderen Experten antworteten.

Beim Political Gaming versetzen sich die Protagonisten in die Lage des anderen, um die Gegenseite besser zu verstehen. Im Kalten Krieg spielten US-Politiker etwa Szenarien durch, bei denen sie am runden Tisch die USA, die Sowjetunion und Europa mit den jeweiligen Argumenten vertraten.

Die Systemanalyse reduziert die Wirklichkeit. Es zerlegt sie in mehrere Systeme und entwickelt daraus mögliche Zukunftsszenarien. Heute sind derartige Modelle computergestützt: Ein Zentrum für angewandte Systemanalyse ist das IIASA in Laxenburg bei Wien.

Alle drei Methoden werden heute noch angewendet. Die Vorhersagen waren teilweise auch korrekt: Rationalisierungen in der Arbeitswelt oder die Entwicklung von Computern prognostizierte RAND annähernd richtig.

Kein Mensch auf dem Mars

Anderes wiederum blieb völlig utopisch: „So glaubten die Forscher, den Meeresboden in den 1980er-Jahren bewirtschaften zu können, oder dass bereits im Jahr 2000 bemannte Raumstationen am Mars existieren, die ebenfalls bewirtschaftet sind“, sagt Dayé.

LEXIKON

RAND ist die Kurzform der 1947 im kalifornischen Santa Monica gegründeten Research ANd Development Corporation. Soziologen beschäftigten sich innerhalb der von der Wirtschaft und dem Militär finanzierten Gruppe seither mit Zukunftsprognosen, aber auch mit massenmedialer Kommunikation, der Entschlüsselung von Propaganda, dem Drogenmissbrauch an amerikanischen Schulen, terroristischen Angriffen oder der Fettleibigkeit der US-Gesellschaft.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2016)

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