EU-Erweiterung: Das Pendel schwingt zurück

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Mit der EU-Erweiterung wurde Österreichs Wirtschaft zum Globalisierungsgewinner. Doch stellenweise beginnt der Osten zu überholen.

Eine vage Hoffnung auf stärkeres Wachstum und eine ebenso vage Sorge vor zigtausenden Zuwanderern. Mit dieser Mischung „begrüßten“ die Österreicher im Jahr 2004 die Erweiterung der EU um acht Länder aus Ost- und zwei Inseln aus Südeuropa. Eine Dekade danach lässt sich eine auf den ersten Blick simple Bilanz ziehen: Die Sorge vor einem unbewältigbaren Andrang an Wirtschaftsflüchtlingen war unbegründet (auch, weil Österreich den Moment, die Unternehmungsfreudigsten zu locken, versäumt hat). Andererseits aber hat sich die Hoffnung auf zusätzliches Wachstum durch die Erweiterung mehr als erfüllt. Banken, Bauunternehmen, Gewerbebetriebe – sie alle entdeckten erst mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, dass es auch eine Welt östlich der heimischen Grenzen gibt, und wuchsen dort stark.

Aber das ist dann doch nur die halbe Geschichte. Denn glaubt man dem McKinsey Global Institute, der Denkfabrik des Beratungsunternehmens, hat Österreich in den vergangenen Jahren seinen Status als Globalisierungsgewinner weitgehend eingebüßt. Die Ökonomen haben für ihre Studie „Global flows in a digital age“ die Globalisierung vermessen. Österreich konnte vor allem in den ersten Jahren nach der Ostöffnung stark davon profitieren, dass sich Wien als wichtiger Drehpunkt für Kapitalflüsse nach Osteuropa etablieren konnte, heißt es dort. Doch in den jüngsten Jahren haben die heimischen Banken ihre Vormachtstellung in der Region teuer bezahlt.

Außer Spesen nichts gewesen?

Ganz unschuldig sind sie daran nicht. So hätten sie etwa zu freizügig Kredite vergeben und damit eine Konsumblase mitgeneriert, unter deren Platzen in der Krise sie nun leiden. In Zahlen ausgedrückt bedeutet das: Österreich ist in Sachen Globalisierung ins Mittelfeld abgerutscht. Von 1995 bis 2012 sackte das Land um zehn Plätze auf Rang 21 ab. Im Finanzsektor ging es gleich um 26 Plätze auf Rang 62 nach unten.

Ist also außer Spesen nichts gewesen? Ist das Märchen Osteuropa für heimische Unternehmen gar zum Albtraum mutiert?

Von der Euphorie der Pionierjahre ist wenig geblieben. Ebenso wenig von den Wachstumsraten im zweistelligen Bereich. Die goldenen Zeiten sind sicher vorbei, sind sich auch Ökonomen einig. „Österreichs Wirtschaft hat dennoch von der Osterweiterung stark profitiert“, sagt Wifo-Ökonom Peter Huber zur „Presse“. Die Osterweiterung habe 0,4 Prozent an realem Wirtschaftswachstum und 7000 zusätzliche Jobs im Jahr gebracht. Aber das sei bei Weitem nicht der größte Vorteil. Viel bedeutender war es, dass die heimischen Unternehmen begonnen haben, über den Tellerrand zu blicken. Wer in den 1980er-Jahren hierzulande Welthandel studiert hat, lernte noch, dass Österreich sein Handelsbilanzdefizit „nie“ umkehren wird können. Davon ist seit der Osterweiterung keine Rede mehr. Der Handel mit den neuen EU-Staaten hat sich stark entwickelt, etliche sind zu den wichtigsten Handelspartnern aufgestiegen. Und die heimischen Unternehmen haben größere Visionen entwickelt. Wo wäre die OMV heute ohne den Kauf der rumänischen Petrom? Wo wären die vielen heimischen Nischen-Weltmeister, wenn sie im Osten nicht ihre ersten Schritte über die Grenzen gewagt hätten?

Dabei verlief die Dynamik der Expansion in konzentrischen Kreisen. Noch heute sind die direkt an Österreich angrenzenden Staaten – Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien – bezogen auf ihre Einwohnerzahl die wichtigsten österreichischen Handelspartner im Osten. Nach Tschechien wurde im Vorjahr um ein Viertel mehr exportiert als nach Polen, das fast vier Mal so viele Einwohner hat: „In den Neunzigerjahren war Polen überhaupt links liegen gelassen worden“, sagt Ernst Kopp, Österreichs Wirtschaftsdelegierter in Warschau: „Erst mit dem EU-Beitritt haben sich Österreichs Firmen Polen zu widmen begonnen.“

Einer, der dort schon sehr früh sein Glück versuchte, ist der Niederösterreicher Andreas Roithner. In vielen Sektoren hat er sich versucht. Heute konzentriert er sich neben Unternehmensberatung vor allem auf sein weit verzweigtes Netz an Sprachschulen, in denen etwa 500 Lehrer die Mitarbeiter von Firmen wie Coca-Cola oder polnischer Ministerien unterrichten. „Gleich nach dem Beitritt haben alle zugewartet. Erst als Gelder aus Europa zu fließen begannen, ging es bergauf“, sagt Roithner.

Vier Jahre später, 2008, hat die Finanzkrise auch in Polen ein neues Zeitalter eingeläutet. Dabei war das Land, das nicht der Eurozone angehört, das einzige in der EU, dessen Wirtschaft 2009 noch ein Wachstum ausweisen konnte. Gerade an Polen zeigte sich freilich auch das Drama des Braindrain, wanderten doch bis zur Krise qualifizierte Menschen massenweise ab: „Bis 2008 war es schwierig, gute Mitarbeiter zu vernünftigen Preisen zu finden“, so Roithner: „Ab 2009 wendete sich das Blatt.“ In Polen zu reüssieren sei schon wegen der Sprache und der polnischen Vorliebe, Geschäfte unter sich zu machen, schwer, sagt Roithner: „Aber die Möglichkeiten sind groß, der Markt ist nicht gesättigt.“

Zum Schritthalten gezwungen

Roithner profitiert nach wie vor von diesem Markt. Auch innerhalb Österreichs gibt es klare Gewinner der Erweiterung. Viele grenznahe Regionen rutschten 2004 aus dem Niemandsland in die Nähe pulsierender Ballungszentren. So hat etwa das Umfeld von Bratislava offiziell eine höhere Kaufkraft pro Einwohner als Wien. Ins burgenländische Designer-Outlet Parndorf kommt ein Großteil der Einkäufer schon aus dem Osten.

Die Nähe zu einer Ostgrenze war freilich keine Garantie für gute Entwicklung, betont Huber. Im Waldviertel finde sich etwa auch jenseits der Grenze nur wirtschaftliches Ödland, sodass positive Impulse ausblieben. Im Weinviertel ist es umgekehrt, und die Dynamik auf der tschechischen Seite drängt auch diesseits der Grenze zum Schritthalten. „Wenn wir uns nicht anstrengen, dann ziehen uns die davon“, so Wolfgang Rieder, Winzer und Gastronom in Poysdorf.

Zahlen

10 Staaten aus Ost-, Mittel- und Südeuropa traten am 1. Mai 2004 der Europäischen Union bei.

74 Mio. Einwohnerzählen diese zehn Staaten insgesamt. Die Hälfte davon lebt in Polen.

64 bis 91 Prozent
des durchschnittlichen EU-Niveaus erreichte das BIP pro Kopf in den zehn Staaten im Jahr 2012. Lettland ist das Schlusslicht, Zypern der Spitzenreiter.

47 bis 91 Prozent des durchschnittlichen EU-Niveaus hatte das BIP pro Kopf in den zehn Staaten im Jahr 2004 erreicht. Auch damals war Lettland das Schlusslicht gewesen, Zypern der Spitzenreiter.

186 Prozent des durchschnittlichen EU-Niveaus hat die Kaufkraft mittlerweile in Bratislava erreicht, in Prag 171 Prozent. Wien liegt bei
165 Prozent.

53 Prozent der Österreicher betrachten laut Umfrage der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik die Osterweiterung als „gute Entscheidung“, 24 als „schlechte Entscheidung“, 20 Prozent sind neutral.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.04.2014)

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