Osteuropa: Reallöhne steigen rasant an

(c) AP (Mcihael Probst)
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Arbeitsmarkt. Ökonomen warnen vor einem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit. Löhne und Gehälter der Daheim-Gebliebenen steigen überproportional schnell.

Wien. 1,2 bis fünf Millionen Osteuropäer gehen in der „alten“ EU ihrem Broterwerb nach – je nachdem, ob nur die offizielle Statistik herangezogen oder die „Schattenwirtschaft“ mitgerechnet wird. Das hat neben den heiß diskutierten Folgen in Westeuropa auch Auswirkungen auf die Heimatländer der „Wanderarbeiter“. Die vielleicht radikalste: Löhne und Gehälter der Daheim-Gebliebenen steigen überproportional schnell. So schnell, dass Ökonomen schon vor einem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit warnen.

Der Lohnrückstand der neuen EU-Mitglieder schwindet rasant, konstatierte schon Mitte 2007 das „Beobachtungszentrum“ der EU-Arbeitsbehörden. Im EU-Durchschnitt seien die „realen“, also um die Inflationsrate bereinigten Löhne und Gehälter 2005 und 2006 um 1,9 bzw. 2,7 Prozent gestiegen. Doch die Zuwächse im EU-15-Raum waren mit 0,6 bzw. 0,8 Prozent schaumgebremst, während sie in den neuen Mitgliedsländern um 3,5 bzw. 5,2 Prozent zulegten.

Rekordhalter bei allen Steigerungen ist – neben den drei baltischen Republiken – Rumänien. Im Balkanstaat sind die Netto-Durchschnittslöhne 2007, dem Jahr des EU-Beitritts, um nicht weniger als 37 Prozent auf 1266 Lei (517 Euro) gestiegen. Eine der Hauptursachen war neben dem rasanten Wirtschaftswachstum der durch Abwanderung nach Westeuropa entstandene Arbeitskräftemangel.

Die Zentralbank warnte vor erhöhter Inflationsgefahr durch überzogene Lohnrunden. Die Nachrichtenagentur Reuters verwies darauf, dass Rumänien früher aus zwei Gründen große Anziehungskraft auf ausländisches Kapital ausgeübt habe: durch billige Arbeitskraft sowie durch die nur 16prozentige Steuer auf persönliche Einkommen und auf Unternehmensgewinne. Ein Vorteil drohe infolge zweistelliger Lohnerhöhungen verloren zu gehen.

„Das ist der Augenblick der Wahrheit“, sagte Florin Pogonaru, Präsident der rumänischen Unternehmervereinigung AOAR. Er prophezeite eine weitere Verschlechterung: „Die Profitabilitätsmargen sinken in mehreren Branchen, so etwa in der Textilindustrie. Die Beschäftigten aus diesen unproduktiven Sektoren werden ins Ausland gehen oder andere Sektoren wählen.“ Konsequenz: „Die Löhne steigen weiter, weil das Personaldefizit ein sehr hohes Niveau erreicht.“

Ungarn im „Tal der Tränen“

Bei den Reallohnsteigerungen ist Rumänien klar die Nummer eins mit einem Plus von 15 Prozent. In Bulgarien dürften die inflationsbereinigten Einkommen ebenfalls zweistellig gewachsen sein. Polen und Tschechien erreichten nach ersten Schätzungen knapp fünf Prozent, während die Slowakei, beim Wirtschaftswachstum Spitzenreiter, nur auf 4,2 Prozent kam.

Ungarn ist abgeschlagen das Schlusslicht der neuen EU-Mitglieder: Dort schrumpften die Realeinkommen um 4,7 Prozent. Die Wirtschaftszeitung „Világgazdaság“ interpretierte den Rückfall statistisch: Sie seien „in die Nähe des Niveaus von 1987 gesunken“.

Damit rutschte das Land ins „Tal der Tränen“ zurück, das von 1987 bis 2001 jährlich Verluste beschert hatte. Relativierend fügte das Blatt hinzu: „Das ist aber mit Vorsicht zu genießen, gibt es doch heute in Relation wesentlich mehr Einkommen außerhalb von Löhnen und Gehältern – außerdem sind die Daten aus der Zeit vor dem Systemwechsel von vornherein mit einem Fragezeichen zu versehen.“ Im letzten Jahrzehnt Staatssozialismus seien die Realeinkommen um sieben Prozent geschrumpft, vor allem als Folge der Inflation, die 1988 beachtliche 15 Prozent betragen habe. 1987 wurde die persönliche Einkommensteuer eingeführt – vorher waren Löhne und Gehälter brutto für netto ausgezahlt worden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.02.2008)

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