Türkei: Das „bessere Deutschland“?

(c) EPA (JORGE ZAPATA)
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Bis 2050 überholt die Türkei die Wirtschaftsmacht Deutschland, schreibt Goldman Sachs. Auch wenn das zu weit gegriffen ist, bessern sich die Chancen des Landes zusehends.

Istanbul. Die Türkei sonnt sich zurzeit in ökonomischen Erfolgsmeldungen. Die Börse hat ein Allzeithoch erreicht, die Industrieproduktion hat im Februar um 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr zugelegt, Staatsminister Ali Babacan erwartet für das erste Quartal 2010 ein zweistelliges Wachstum.

Doch es sind nicht nur diese auf den ersten Blick guten Zahlen, die die Fantasie beflügeln. In der Türkei habe ein „Paradigmenwechsel“ stattgefunden, zitiert die Nachrichtenagentur Bloomberg den Analysten John Lomax von HSBC Holdings Plc. Einen Wechsel kann man durchaus beobachten.

Bis vor einigen Jahren galt die türkische Wirtschaft als äußerst flatterhaft, geplagt von hohen Zinsen, hoher Inflation und immer am Tropf des IWF. Diese Zeiten scheinen endgültig vorbei. Im März konnte Ministerpräsident Tayyip Erdoğan verkünden, er habe die seit zwei Jahren geführten Verhandlungen mit dem IWF abgebrochen. Das kann sich Erdoğan leisten, denn der Schuldensockel der Türkei wurde durch Privatisierungseinnahmen und starkes Wachstum in der Mitte des Jahrzehnts stark abgebaut und liegt derzeit unter dem Niveau vieler europäischer Länder. Als Folge liegen die Zinsen für staatliche Anleihen in türkischer Lira derzeit sogar etwas unter der momentanen Inflationsrate von knapp zehn Prozent.

Optimistische Unternehmer

Angesichts der hohen Wachstumsraten in der Mitte des Jahrzehnts hat der türkische Volkswirt Ahmet Akarli für Goldman Sachs bereits 2008 ein Szenario entworfen, wonach die türkische Volkswirtschaft bis 2050 Deutschland überholt und zur drittstärksten Volkswirtschaft Europas nach Großbritannien und Russland wird.

Allerdings beruhen die derzeit positiven Wirtschaftsdaten ausschließlich auf ungewöhnlichen starken Basiseffekten. So ist etwa die Steigerung der Industrieproduktion auf der Grundlage des Vorjahresmonats berechnet, der einen Einbruch um 23,8 Prozent sah. Ähnlich ist die Gewissheit zu sehen, dass die Türkei im ersten Quartal zweistellig wachsen wird. Das Wachstum wird in der Türkei ebenfalls als Unterschied zum Vorjahresquartal gemessen und in dem ist die türkische Wirtschaft um 14,9 Prozent eingebrochen.

Eine Belebung der Konjunktur ist bisher nicht festzustellen. Die Auslastung der Industrie stagniert seit November, die Investitionen sind am Jahresende noch einmal kräftig zurückgegangen. Einzig die Börse boomt.

In einer Studie über das Verhalten türkischer Unternehmer stellt das Zentrum für ökonomische und gesellschaftliche Untersuchungen der Bahcesehir Universität in Istanbul fest, dass sie anders als die verglichenen deutschen Unternehmer zu optimistischen Annahmen neigen. Die Banken haben aufgrund fallender Zinsen gut verdient und müssen jetzt sehen, wie sie ihr Geld anlegen. Beides zusammen könnte zu einer raschen Erholung der Investitionen in den nächsten Monaten führen, sodass ein von Investitionen und Exporten getragener rascher Aufschwung möglich erscheint.

Damit würde sich wieder ein typisch türkischer Konjunkturverlauf ergeben, harte Einbrüche gefolgt von steilem Anstieg, wenn auch diesmal mit etwas Verzögerung. Auf lange Sicht gesehen relativieren sich die Unterschiede zur Vergangenheit ohnehin. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts lag das durchschnittliche Wirtschaftswachstum der Türkei bei 3,8 Prozent und war damit niedriger als in den beiden Jahrzehnten davor und auch niedriger als in anderen Schwellenländern.

Standortvorteil: Junge Türken

Trotzdem ist das Wort vom Paradigmenwechsel nicht übertrieben. Das gilt nicht zuletzt für die politischen Rahmenbedingungen. Mit der Schwächung des Militärs wirken sich auch politische Krisen weniger heftig auf die Wirtschaft aus. Andererseits ist eine Tendenz zu beobachten, schlechte Nachrichten und negative Analysen durch Druck auf die Medien einfach zu unterdrücken.

Ein großes Plus für die Türkei ist der Umstand, dass sie auf den Märkten der rohstoffreichen Länder des Mittleren Ostens und in Russland gut aufgestellt ist. Neben geografischen Gründen und der Expansion türkischer Warenhausketten helfen dabei in vielen Ländern auch kulturelle Faktoren.

Ein weiterer positiver Faktor ist die junge Bevölkerung, ein ökonomischer Vorteil, der allerdings durch das niedrige Pensionsalter etwas relativiert wird. Alles in allem gute Aussichten. Die Türkei wird Deutschland wohl kaum bis 2050 überholen können, aber vielleicht zehn oder zwanzig Jahre später.

auf einen blick

Die Türkei strotzt vor Selbstvertrauen. Im ersten Quartal soll die Wirtschaft zweistellig wachsen. Niedrige Staatsschulden machen den Verzicht auf IWF-Hilfe möglich.

Bis 2050 steigt das Land zur drittstärksten Wirtschaftsmacht Europas auf, erwartet Goldman Sachs. Die junge Bevölkerung und die strategisch gute Lage lassen die Prognose realistisch erscheinen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.04.2010)

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