Russland: Neues Gas vom Rand der Welt

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Neues Rand WeltEDUARD STEINER
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Auf der Halbinsel Jamal nördlich des Polarkreises wird schon bald Gas gefördert. 10.000 Arbeiter des Gaskonzerns Gazprom bereiten die Inbetriebnahme vor. Ab 2012 soll es auch nach Europa fließen.

Jamal. Sergej ist eingenickt. Auch der Rest der Passagiere wirkt nicht gerade wach. Dass Jewgeni schnarcht, ist mehr zu sehen denn zu hören. Die Antriebsturbinen der Rotorblätter übertönen alles. Wer sich wie Andrej wachhalten konnte, scheint über die Ewigkeit und die Schattierungen der farbarmen Eislandschaft zu meditieren. 300 Meter unter dem Mi-8-Hubschrauber erstreckt sich schier grenzenlos ewiges Eis, bis der Hubschrauber 600 Kilometer weiter nördlich, im Zentrum der Halbinsel Jamal, aufsetzt. „In jeder Jahreszeit gibt es einige angenehme Tage hier“, sagt der Bohrtechniker Andrej Zorin später auf die Frage nach dem erträglichsten Zeitabschnitt nördlich des Polarkreises. Er hat es es positiv gemeint und ist doch über den Freud'schen Versprecher gestolpert, weil der Kampf gegen die Natur den Großteil des Jahres vergällt.

Hier, auf der Landzunge nördlich des russischen Uralgebirges, diktiert die Natur die Bedingungen. Und hier trotzen Gasarbeiter ihr immer mehr an Territorium ab. Auch an diesem Herbsttag sind wieder 20 Hubschrauber angeflogen gekommen, haben ausgeruhte Arbeiter hin- und erschöpfte zurück in den Urlaub geschafft. Das gigantische Gasfeld Bovanenkovo hat Bewegung in die Einöde gebracht. 10.000 Arbeiter des Gaskonzerns Gazprom bereiten die Förderung vor. Ab dem dritten Quartal 2012 soll der Rohstoff aufs Festland sowie unter anderem nach Europa fließen. „Mittelfristig werden wir die jährliche Förderkapazität von 115Milliarden Kubikmeter erreichen“, erklärt Gazprom-Vizechef Alexandr Ananenkov der „Presse“. Das ist 14-mal so viel, wie Österreich pro Jahr verbraucht.

Mit Bovanenkovo beginnt die Erschließung von Jamal. Als „Russlands Gashauptstadt für die kommenden 30 Jahre“ hat Premier Wladimir Putin sie bezeichnet, schließlich soll sie die versiegenden Gasfelder auf dem westsibirischen Festland ersetzen und langfristig ein Drittel der russischen Gasförderung abdecken. Bovanenkovo birgt 4,9Billionen Kubikmeter. Damit könnte Österreichs Gasbedarf 600 Jahre gedeckt werden.

Kolonnen von Lastwägen durchmessen Tag und Nacht die frostige Tundra. Bohrtürme ragen aus der flachen Ebene. Daneben Waggons – die temporären Behausungen für Tausende Arbeiter der von Gazprom engagierten Subunternehmen. „Zwölf Stunden Arbeit, zwölf Stunden frei“, erklärt Andrej einsilbig. Wortkarg sind sie hier alle. Was man in der Freizeit, bei bis zu minus 50 Grad, jenseits der Zivilisation mache? „Es gibt eine Sauna. Und nach zwei Stunden vor dem Fernseher schläfst du ein.“

Der Boden muss gefroren bleiben

Schläft er nicht, berät sich der 26-Jährige über die Verlegung des Gestells zum nächsten Förderloch. Knapp 100 sind fertiggebohrt und brauchen zum Produktionsstart 2012 nur noch angezapft zu werden. Doch viel ist noch zu erledigen. „Die größten Schwierigkeiten sind die Größe des Gasfeldes, das Klima und die geografische Lage“, sagt Pavel Slugin, Vizechef für die Produktion. Nein, nicht wärmer möchte er es haben, im Gegenteil: „Der Boden soll gefroren bleiben.“

Zwar tut er dies 300 Meter tief. Zum Leidwesen von Gazprom taut er im Sommer an der Oberfläche aber 70 Zentimeter auf. Daher wird er mittels Thermostabilisatoren gekühlt, damit die Gebäude nicht absacken. Und damit die Pipeline den Boden nicht erwärmt, darf das transportierte Gas nicht wärmer als minus zwei Grad sein. Noch steht der erste von geplanten vier Strängen der neuen Pipeline bis zur Stadt Torschok nordwestlich von Moskau, von der aus die Hauptgaspipeline nach Europa führt, ohnehin erst zum Teil. Der Bau zieht sich hin. Auf dem Landweg können die Röhren nur im Winter verlegt werden, in den Meerbusen „Bajdarazkaja“ der Karasee nur im Sommer.

Die Rentiere können passieren

Der Sommer ist die Zeit, in der die Ureinwohner der Nenzen mit ihren Herden in den Norden ziehen, weil die Rentiere vor den aggressiven Mückenschwärmen flüchten. „Rand der Welt“ heißt Jamal in der Sprache der Nenzen. Von einer kolportierten Verdrängung der Ureinwohner durch die Gasindustrie will man bei Gazprom nichts wissen. Die Nenzen würden den Anmarsch der Herde per Handy ankündigen. Die Pipelines seien in gewissen Abständen zu Bögen erhöht, damit die Tiere durchziehen können.

Selbst eingefleischte Gazprom-Kritiker wie Michail Kortschemkin, Direktor von „East European Gas Analysis“, sehen keine Alternative zu Jamal. Doch die neue Pipeline über 2324 Kilometer bis Torschok sei überflüssig. Würde man nach früherem Plan eine Verbindungslinie über 500 Kilometer zum bestehenden Pipelinesystem in den Ort Jamburg bauen, würde das einen Bruchteil kosten. Für Kortschemkin ein Beispiel dafür, dass sich die Pipeline-Lobby zum Schaden des Konzerns durchgesetzt habe. Gazproms kleinerer Konkurrent Novatek geht einen anderen Weg und setzt auf Flüssiggas zur Verschiffung über das Meer. Auch das gestaltet sich in dieser Region schwierig, zumal das Meer seicht ist. Etwa 21MilliardenEuro hat Novatek an Investitionen veranschlagt. Und erfolgreich bei der Regierung um Befreiung von der Fördersteuer angeklopft, worum Gazprom noch vergeblich bittet.

Während diese und andere große Fragen zur Gaszukunft in Moskau gelöst werden, tummeln sich Tausende Arbeiter auf Bovanenkovo, um in zwei Jahren den Betrieb aufnehmen zu können. „Wenn man 15 Jahre im Norden gearbeitet hat, geht man bereits mit 55 in Pension“, sagt der 33-jährige Produktionsvizechef Slugin. Das Fehlen von Pflanzen und Licht mache zu schaffen und könne sich auf den Gemütszustand auswirken.

Arbeit im Norden wird gut bezahlt

Slugin ist blass. Bohrtechniker Zorin weniger: Der „Nordkoeffizient“ mache das Arbeiten hier attraktiv, sagt er. Bohrpersonal verdient bis zu 3200 Euro netto im Monat, Hilfsarbeiter 1500. „Die lange Trennung von der Familie fällt schwer“, sagt Andrej: „Aber auch daran gewöhnt man sich.“ Nach einem Monat wird er, so es die Witterung zulässt, in den Hubschrauber steigen und beim Blick aus dem Fenster über die Ewigkeit, die Weite und die Schattierungen des Eises sinnieren, ehe ihn der Lärm der Rotorblätter in den Schlaf befördern. Stunden später wird er weiter südlich Frau und Kinder wieder umarmen. Ehe es nach einem Monat zurückgeht ins ewige Eis.

Auf einen Blick

Die Gasfelder auf dem westsibirischen Festland versiegen allmählich. Also macht man sich in Russland an die Erschließung von Gasfeldern auf der Halbinsel Jamal, wo langfristig ein Drittel der russischen Förderung stattfinden soll. Ab 2012 soll von dort Gas auch nach Europa fließen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.12.2010)

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