So billig wie heute war Geld noch nie

Bankiers und Kredithaie waren beliebte Motive des flämischen Renaissancemalers Marinus van Reymerswaele.
Bankiers und Kredithaie waren beliebte Motive des flämischen Renaissancemalers Marinus van Reymerswaele.(c) RISD Museum
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Von Babylon bis Bernanke: Die Geschichte des Zinses spiegelt Aufstieg und Fall von Kulturen. Sie zeigt auch: Zinsen nahe null sind historisch einmalig. Ein Ausflug in ferne Vergangenheit.

Mit einem stumpfen Holzgriffel kratzte der babylonische Schreiber seinen Text in die Tafel aus weichem Ton: „Zwei Sekel Silber hat sich Mas-Schamach, der Sohn von A., geliehen, von der Sonnenpriesterin Amat-Schamach, der Tochter von W. Er wird die vom Sonnengott festgelegten Zinsen entrichten. Zur Zeit der Ernte zahlt er die Summe und die Zinsen zurück.“

Seit zwischen Euphrat und Tigris um 2700 vor Christus die Keilschrift entstand, kann sich die Menschheit an sich selbst erinnern. Doch unsere ältesten Aufzeichnungen sind weder Gebete noch Gedichte, weder Hymnen noch Heldensagen. Es sind ganz nüchterne Listen, Tabellen – und Kreditverträge, geschlossen vor Zeugen, mitsamt Pfand und fixiertem Zinssatz.

Also hatte sich Andy Haldane gar nicht so weit aus dem Fenster gelehnt. Vor einem Ausschuss des britischen Parlaments behauptete der Chefökonom der Bank of England vor einigen Jahren kühn, das globale Zinsniveau sei so niedrig wie noch nie zuvor. Das zog ein „kluger Kollege“, wie er später erzählte, in Zweifel: „Woher willst du denn wissen, dass die Zinsen in babylonischen Zeiten nicht niedriger waren?“ Haldane nahm die Herausforderung an. „Mehrere erschöpfte Forschungsassistenten später“ konnte er sich sicher fühlen: Offenbar waren die durchschnittlichen Zinsen in den letzten 5000 Jahren tatsächlich noch nie so niedrig wie heute. Seine Erkenntnisse fasste er in einer Grafik zusammen, die seitdem unter den Analysten von Banken Furore macht (siehe unten).

Saat und Kälber. Aber wie Haldane nur bei der Quelle diskret andeutet, sind seine Lorbeeren nicht ganz ehrlich verdient. Natürlich brauchte es schon davor Heerscharen von Archäologen und Archivaren, um die Informationen für die Kurven zusammenzutragen. Und zwei so emsige Wirtschaftshistoriker wie Sidney Homer und Richard Sylla, um sie zu „A History of Interest Rates“ zu kompilieren. Das voluminöse Standardwerk zeichnet anhand der Entwicklung der Zinssätze den Aufstieg und Fall ganzer Zivilisationen nach. Es zeigt, wie religiöse Dogmen die ökonomische Entwicklung über Jahrhunderte bremsten. Es streift Geschichten von Gewalt und Zwang, von Habgier und List. Aber zwischen den Zeilen erklingt auch ein Loblied auf die Verlässlichkeit ehrbarer Kaufleute.

Aller Anfang liegt im Dunkel. Aber eine Vermutung liegt nahe: Wohl schon seit die Menschen Ackerbau und Viehzucht betreiben, vergeben sie Kredite. Ein Bauer leiht einem Verwandten oder Nachbarn Saatgut und bekommt nach der Ernte mehr davon zurück: So funktioniert es in einfach strukturierten Stammeskulturen noch heute. Oder ein Rind wird verliehen, das mit seinem Nachwuchs einen natürlichen Mehrwert abwirft. Die Sumerer verwendeten dasselbe Wort für „Kalb“ und „Zins“. Das lateinische Wort für Geld, „pecunia“, kommt von „pecus“, der Herde. Das italienische „capitale“ kommt vom lateinischen „caput“ für Kopf – die Kopfzahl des Viehbestandes steht für das Vermögen, im Gegensatz zu den Kälbern als Zinsen. In den babylonischen Städten kam bald das Verleihen von Edelmetallen hinzu. Man tauschte das eine ins andere. Noch bei Homer versprechen Bittsteller dem Odysseus: „Wir bezahlen in Bronze und Gold, im Wert von zwölf Ochsen.“

Dem Kredit folgten seine Schattenseiten, von Wucherzinsen bis Zahlungsverzug. So finden sich schon im Codex Hammurabi, dem ältesten Gesetzestext der Welt, eine ganze Reihe von Vorschriften zu Kreditgeschäften. Vor allem der maximal erlaubte Jahreszins: ein Drittel des Darlehens bei Korn, ein Fünftel bei Silber. Aber auch schaurige Varianten für Sicherheiten: Neben Grund und Boden konnte der Schuldner auch sich selbst verpfänden – oder wahlweise Ehefrau, Kinder, Sklaven und Konkubinen. Doch war solch persönliche Knechtschaft auf drei Jahre beschränkt. Die Assyrer fügten hinzu: Erhält der Kreditor einen Menschen als Pfand, darf er ihn weder misshandeln noch verkaufen. Immerhin.

Mit solch barbarischen Bräuchen räumten erst die Griechen auf. Aber nur unter Druck: Im sechsten Jahrhundert vor Christi hatten sich die attischen Pachtbauern so schlimm verschuldet (und häufig ihre ganze Familie verpfändet), dass ihnen von der Ernte nur mehr ein Sechstel blieb. Also drohten sie mit Rebellion. Die Athener riefen den weisen Dichter Solon zu Hilfe. Seine Reformen waren so radikal wie dauerhaft: Nach einem Schuldenschnitt befreite er die betroffenen Sklaven. Zugleich schaffte er alle gesetzlichen Schranken für den Zinssatz ab. Die Griechen ließen also – sehr liberal gedacht – den Markt entscheiden. Dabei verteufelte Platon den Zins. Auch für Aristoteles war Geld steril, seine Vermehrung also unnatürlich und zu Recht verhasst – womit er im Grunde jeden Gewinn aus kommerziellen Geschäften ablehnte. Aber der Protest der Philosophen verhallte ungehört. Handel und Geldwesen konnten sich entwickeln, die Zinsen sanken auf unter zehn Prozent.
Aus dieser Sicht bedeutete das römische Recht einen Rückschritt. Die „Zwölf Tafeln“ erlaubten wieder die Versklavung des Schuldners, wenn er nicht zurückzahlte. Die meisten Gesetze betrafen Höchstgrenzen für den Zinssatz. Anfangs lag er bei gut acht Prozent, nahe dem üblichen Zins. Freilich waren die Römer, eine Nation von Bauern und Soldaten, an Geldgeschäften gar nicht interessiert. Cato sinnierte: „Anstelle von Landwirtschaft könnte man auch Gewinn aus Seehandel suchen, wenn es nicht so gefährlich, oder aus dem Geldverleih, wenn er achtbar wäre.“ Lieber holten sich die Römer fremde Händler ins Land, vor allem Griechen, und vermieteten ihnen Geldbuden auf dem Forum.

So ist es griechischen Migranten zu verdanken, dass sich Rom zum wichtigsten Finanzplatz der Welt entwickelte. Mit der Wirtschaftskraft und wachsendem Wohlstand sanken die Zinsen: auf dem Höhepunkt des Imperium Romanum auf nur noch vier Prozent. Bis das Reich im Chaos versank und die Zinsen langsam in die Höhe kletterten, auf über zwölf Prozent – als Indikator für Schwäche und Unsicherheit.

Alles ist Wucher.
Von da an tappen die Historiker wieder jahrhundertelang im Dunkeln. Aus der Zeit der Völkerwanderung fehlen Aufzeichnungen. Und dann versuchte die katholische Kirche, das biblische Zinsverbot durchzusetzen. „Wenn du deinem Bruder etwas borgst, sollst du keinen Nutzen daraus ziehen“, heißt es im Alten Testament, „Verleihe freigebig und erhoffe dir nichts dabei“ im Lukas-Evangelium.

Die Fürsten sekundierten. Karl der Große verbot „Zinswucher“ und zielte damit nicht nur auf Kredithaie. Denn die Definition in seinen Kapitularien war klar: „wenn mehr genommen wird als gegeben“. Doch ganz zum Erliegen kam der lukrative Geldverleih nie.

Schon die Bibel lieferte eine Ausflucht: Dem „Bruder“ durfte man keine Zinsen abverlangen, dem heidnischen Feind aber ausdrücklich sehr wohl. Also konnten Juden, denen mit Exkommunikation ohnehin nicht zu drohen war, den Christen weiter Geld verleihen. Und Juden wie Christen hielten sich an Sarazenen schadlos. Wobei die Rolle der Juden nur „marginal“ war, wie Homer und Sylla betonen. Bald wurden sie von Lombarden verdrängt, und diese später von öffentlichen Pfandhäusern. Die tolerierten Ausnahmen nahmen zu. Balduin II. von Konstantinopel verpfändete sogar die Dornenkrone an einen venezianischen Geldverleiher. Als der Kredit ausfiel, verkaufte der Financier die kostbare Reliquie an den französischen König. Auch die Scholastiker lenkten in ihren theologischen Grübeleien zögerlich ein. Lang bevor die Reformation dem Verbot ganz den Garaus machte, blühte das Geldwesen auf. Die neu entstandenen Banken in Florenz und Genua verteilten die Ausfallsrisken auf viele Kunden und konnten so die Konditionen senken. Zu ihrem besten Kunden wurde die Politik. Die Zinshöhe aber spaltete sich: Freie Städte galten als sehr kreditwürdig, sie zahlten nur einstellige Sätze. Den Fürsten aber knöpften die Geldgeber 20 bis 80 Prozent ab. Denn das Risiko mit ihnen war hoch.

Gläubiger auf dem Scheiterhaufen.
Edward III. von England widerrief im 14. Jahrhundert seine Schulden bei Florentiner Bankiers und trieb diese dadurch in den Ruin. Philipp der Schöne von Frankreich ließ seinen Hauptgläubiger, den Templerorden, kurzerhand ausrotten. Söldnerheere trieben den hoheitlichen Geldbedarf im 15. und 16. Jahrhundert in die Höhe. Machthunger der Fürsten und Gier der Bankiers schaukelten sich gegenseitig hoch. Als Pfand bekamen die Fugger Lizenzen für Bergwerke.

Ihre Augsburger Bank häufte den bis dahin höchsten Kapitalbestand eines einzelnen Unternehmens an. Doch durch den Zahlungsausfall der spanischen Krone schmolz auch ihr Reichtum dahin. Die spanischen Habsburger hielten sich aber auch an den besetzten Niederlanden schadlos. Sie nutzten deren guten finanziellen Ruf und ließen über die Börse in Antwerpen Geld eintreiben – bis unbezahlte Soldaten des bankrotten Philipp II. die Stadt plünderten.

Aber schließlich setzte sich die Zuverlässigkeit selbst verwalteter Finanzplätze gegen die dynastische Willkür durch. In Amsterdam und später in London entstanden die ersten Zentralbanken. Doch ganz anders als heute blieben ihre Zinsen lang konstant. Die Bank of England hielt ihre über mehr als hundert Jahre, von 1719 bis 1822, auf dem gleichen Niveau. England und später die USA wurden zu den globalen Motoren des Wachstums. Doch so dynamisch sich Wirtschaft und Wohlstand nun entwickelten, so erstaunlich stabil blieben die langfristigen Zinsen – von 1660 bis 1960 in einer engen Bandbreite zwischen zwei und sechs Prozent. Besonders niedrig waren sie bei den großen Handelsmächten um die vorletzte Jahrhundertwende, zwischen 2,5 und 3,5 Prozent. Sodass Eugen von Böhm-Bawerk damals mit einiger empirischer Evidenz behaupten konnte, das „kulturelle Niveau einer Nation“, seine „Intelligenz und moralische Stärke“, spiegle sich im Zinssatz.

Zinsen als Waffe.
Zwei Dinge ahnte der österreichische Ökonom nicht voraus. Zum einen die Launen der Inflation, die erst seit dem vorigen Jahrhundert am Fundament von Volkswirtschaften rüttelt – und zum bisherigen (regional beschränkten) Zinsrekord für ein Jahr Leihe führte: 10.000 Prozent in Berlin in den Zwanzigerjahren. Und zum anderen die Capricen des Wachstums: Über Jahrtausende lag es praktisch bei null, während der Industriellen Revolution stieg es konstant kräftig an – und seitdem geht es rauf und runter.

Gegen beide Unwägbarkeiten kämpfen nun die Notenbanken mit ihrer Geldpolitik an. Indem sie die Zinsen bewusst destabilisieren, wollen sie den Wirtschaftstanker wieder auf Kurs bringen. In unseren Tagen beschert uns das Zinsen nahe null, und damit auf einem wahrhaft historisch niedrigen Niveau. Darüber vergessen wir leicht, dass die Ausschläge davor in die andere Richtung gingen. Ölpreisschock und Stagflation führten in den 1970er- und 1980er-Jahren zu den höchsten durchschnittlichen Zinsen seit den Anfängen in Babylon. Der Zinssatz, der früher nur die weiten Schwingungen der Weltgeschichte mitvollzog, hat sich in einen nervösen Seismografen verwandelt, mit Höhenflügen und Tiefenräuschen. Was uns schließen lässt: Die künftige Geschichte des Zinses dürfte uns noch einige spannende Kapitel bescheren.

Inflation

800Prozent per anno
war der Leitzins, den die Zentralbank von Simbabwe während der Hyperinflation von 2007 festlegte.

600Prozent
boten argentinische Banken während der Hyperinflation von 1990 großen Anlegern für einen Monat (!). Hätten diese den Betrag samt aufgelaufenen Zinsen jeden Monat wieder veranlagen können, wären rein rechnerisch in einem Jahr 1,84 Billionen Prozent Zinsen herausgekommen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2016)

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