Autisten, begehrte Ausnahmekönner

Der deutsche Softwarekonzern SAP will bis zum Jahr 2020 rund 650 Autisten als Softwaretester einstellen. Die Computerbranche entdeckt die unterschätzten Zahlengenies als bereichernde Mitarbeiter.

Tratsch, Intrigen, politische Seilschaften. Lärmender und lähmender Alltag zugleich in den Bürotürmen rund um den Globus. Die Personalchefs des deutschen Softwareriesen SAP suchen jetzt gezielt nach Menschen, die immun gegen diese Art sozialer Produktivitätskiller sind: nach Autisten. In den kommenden sieben Jahren will der Walldorfer Konzern 650 Autisten als Softwaretester einstellen.

Langsam entdeckt die Wirtschaft jene Menschen mit einer besonderen Begabung, die zum Teil immer noch fälschlicherweise als intellektuell zurückgeblieben gelten. „Diese Menschen haben große Fähigkeiten“, sagt Hilmar Schepp, Unternehmenssprecher von SAP zur „Presse am Sonntag“. Der Umgang mit Menschen bereitet ihnen zwar meist Stress. Mimik und Ironie können sie nicht deuten. Aber ihr Gehirn ist stattdessen auf das Verarbeiten riesiger Datenberge ausgelegt. Viele Autisten haben ein nahezu fotografisches Gedächtnis, monotone Arbeiten erfüllen sie auch nach Stunden noch hoch konzentriert.


Ein Prozent Autisten. Fähigkeiten wie geschaffen für die IT-Branche, wo endlos lange Zahlenreihen und Softwarecodes nach Fehlern durchsucht oder Programme auf ihre Funktionsfähigkeit getestet werden müssen. In einem ersten Pilotprojekt in Bangalore schulte SAP acht Autisten als Softwaretester – und war begeistert. „Sie haben eine Fähigkeit, die uns abhandengekommen ist“, sagt Schepp. „Den Blick auf das Wesentliche bewahren.“ Auch bei der Konzeption neuer Smartphone-Apps sind die Autisten bei SAP schon an Bord. Sie garantieren dafür, dass die Nutzer nach zwei Klicks zum Ziel kommen und keine frustrierenden Umwege gehen müssen.

SAP ist nicht das erste Technologie-Unternehmen, das die Ausnahmetalente für sich entdeckt. Auch Nokia, Microsoft und IBM setzen auf Autisten. Dennoch tun sich Menschen mit dieser Diagnose im Berufsleben schwer. Schätzungen zufolge leidet ein Prozent der Bevölkerung an Autismus. Nur fünf bis sechs Prozent von ihnen ergattern einen Arbeitsplatz. Bei Menschen mit Asperger-Syndrom, einer schwächeren Form der Krankheit, liegt die Quote etwas höher. Die Ankündigung von SAP ist bemerkenswert. Denn erstmals würde ein großes Unternehmen ein Prozent der gesamten Belegschaft aus Autisten rekrutieren – und damit ihren Anteil an der Bevölkerung abbilden.

Partner bei dem Projekt ist die dänische Stiftung Specialisterne. Gegründet von Thorkil Sonne, selbst Vater eines autistischen Sohnes, hat es sich zum Ziel gesetzt, weltweit eine Million Autisten ohne intellektuelle Beeinträchtigung in Jobs zu bringen. Von der Qualität seiner Mitarbeiter ist Sonne überzeugt. Sie bleiben motiviert, wo andere längst das Interesse verloren haben. „Und wenn das passiert, passieren Fehler, teure Fehler“, sagt Sonne zur „Presse am Sonntag“. Tatsächlich liegt ihre Fehlerquote bei einem Zehntel der „normalen“ Mitbewerber. Für SAP übernimmt Specialisterne die Suche und gezielte Ausbildung passender Bewerber. Nach dem Übertritt in den Softwarekonzern werden die Autisten noch ein halbes Jahr lang von Specialisterne betreut.


Kein Lärm, kein Stress, keine Ironie. Umgekehrt werden auch die SAP-Mitarbeiter auf ihre neuen Kollegen vorbereitet. Lärm, Stress oder auch schon ein Anflug von Ironie sind im Umgang mit ihnen tabu. „Das können sie mit einem Autisten nicht machen. Sie sind geradeheraus und brauchen klare Anweisungen“, erzählt der SAP-Sprecher Schepp. Beim ersten Test in Bangalore habe sich bald ein positiver Effekt eingestellt. Das neue Arbeitsklima ließ auch die Zufriedenheit der übrigen Mitarbeiter steigen. Die sonst hohe Wechselrate sank.

An Bewerbungen wird es dem deutschen Softwarekonzern nicht mangeln. Schon am ersten Tag nach der Ankündigung liefen die Telefone heiß. Meist sind es die Eltern, die die Initiative ergreifen. „Ihre Kinder sind oft unterfordert und graben sich ein“, sagt Schepp. Jetzt sollen sie raus und zeigen, was sie können.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.05.2013)

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