»Die Krise hatte ihr Gutes«

Island hat das Gröbste überstanden. Bleibt nur zu hoffen, dass die Isländer in Anbetracht dessen nicht wieder zu alter Überheblichkeit zurückfinden.

Thingvellir, die Stätte, an der vor 1100 Jahren Europas ältestes Parlament zusammentrat, zählt zum Weltkulturerbe der Unesco. Wer in den Schluchten stand, versteht, warum jährlich eine halbe Million Menschen hierher strömen, um den Blick auf See und Gletscher zu genießen. Die Zeiten, in denen Island nur für die Bestbetuchten erschwinglich war, sind vorbei. „Die Krise hatte ihr Gutes“, meint Einar Saemundsen, der Projektleiter in Thingvellir. Die Landeswährung verlor 40 Prozent ihres Werts, „dadurch ist alles viel billiger geworden“.

Und als sich dann zeigte, dass der Vulkanausbruch des Eyjafjallajökull, der Europas Flugverkehr wochenlang lähmte, die Touristen nicht abschreckte, sondern vielmehr neugierig machte, begann ein goldenes Zeitalter für Islands Fremdenverkehr. „In den ersten Monaten dieses Jahres stiegen die Besucherzahlen um 80 Prozent gegenüber dem ebenfalls schon guten Vorjahr“, sagt Saemundsen, die beliebte „Golden Circle Tour“, die Reisende um die Insel führt, „ist jetzt im Februar so beliebt wie sonst im Juli.“

So trägt der Tourismus zur Genesung des Landes bei, das als erstes von der Finanzkrise erfasst und an den Rand des Staatsbankrotts getrieben wurde. Was Griechen, Portugiesen oder Zyprer jetzt erleben, hat Island schon im Herbst 2008 durchgemacht, als die Großbanken, deren Bilanzsumme auf das Zehnfache des BIPs angeschwollen war, innerhalb einer Woche zusammenbrachen und nur Milliardenhilfen des Internationalen Währungsfonds das Land vor der sofortigen Zahlungsunfähigkeit retteten.

Doch die Botschaft Islands an die Leidensgenossen im Süden lautet: Nach der Talfahrt geht es wieder aufwärts. Erst mussten die Isländer durch ein Stahlbad aus Budgetkürzungen, Lohnsenkungen und Steuererhöhungen, das keine Familie unberührt ließ, und jene, die in den Boomzeiten riskante Kredite aufgenommen hatten – und das waren viele – ächzen heute noch unter der Schuldenlast. 2009 fiel das BIP um zehn Prozent. Doch vier Jahre später steht das Land „makroökonomisch wieder gut da“, sagt der Nationalökonom Gylfi Magnusson, der in Island als Guru gilt, weil er schon damals, als alle anderen glaubten, die guten Zeiten hielten ewig an, vor den Folgen des ungezügelten Wachstums warnte.

Auf dem Höhepunkt der „Kreppa“, wie man in Island die Krise nennt, war die Inflation auf 20 Prozent geschnellt, der Leitzins auf 18, die Arbeitslosigkeit hatte sich verfünffacht, die öffentlichen Schulden waren von 30 auf 115 Prozent des BIPs explodiert. Jetzt ist die Arbeitslosenquote auf fünf, die Teuerung auf drei Prozent gefallen, der Haushalt soll ab nächstem Jahr in den schwarzen Zahlen sein, die Handelsbilanz ist positiv, das Wachstum von 1,6 Prozent „signifikant“, sagt Magnusson. Angekurbelt wird der Aufschwung von der Exportindustrie, die von der billigen Krone profitiert.

„Wir haben billige grüne Energie“, preist Finanzminister Bjarni Benediktsson sein Land, in dem heiße Quellen unter der Oberfläche brodeln und enorme Mengen Wasserkraft genutzt werden können, als Wirtschaftsstandort an. „Wir haben den Fisch, der die Menschheit ernähren kann, wir haben den Tourismus für die wachsende Mittelklasse.“ Seinen Optimismus teilen nicht alle, denn Aluminiumwerke und Stauseen für die Wasserkraft verschandeln und zerstören die Natur, die viele Menschen auf die Insel lockt. Die Fischindustrie erlebt einen Boom dank des Klimawandels, doch die Schwärme, die jetzt in die isländischen Gewässer strömen, können auch wieder andere Wege suchen. Schon in den 1980ern hat man erlebt, wie der Hering plötzlich verschwand. Und auch der Fremdenverkehr stößt an seine Grenzen, denn wer nach Island kommt, sucht nicht den Massenauftrieb, sondern das individuelle Naturerlebnis.

Dennoch breitet sich auf Island die Stimmung aus, dass „das Schlimmste hinter uns liegt“, wie es der Soziologe Ingolfur Ingolfsson formuliert. Und so beginnt auch schon wieder der Übermut, die Isländer zu piesacken. Bei den Parlamentswahlen vor vier Wochen hatten sie die Wahl zwischen der Koalition, die sie mit großen Opfern aus der Krise führte, und jenen Parteien, die für das Finanzdesaster verantwortlich waren, jetzt aber mit Steuersenkungen und Schuldentilgung lockten. Sie lauschten den Schalmaienklängen und wählten die Finanzakrobaten zurück an die Macht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.05.2013)

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