Nichts als Arbeit

Pflasterer
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Nie zuvor ging es so vielen Menschen so gut. Und trotzdem steigt der Druck. Ist es das kapitalistische System? Oder sind wir nicht vielmehr Opfer unserer Selbstausbeutung?

Kennen Sie viele rundum glückliche Menschen? Oder auch nur zufriedene? Und wenn nein, warum nicht? Geht es der heutigen Generation nicht besser als so ziemlich jeder vorangegangenen? Die längste Friedensphase, genug zum Essen, reines Wasser, mehr Einkommen als fast alle rund um diesen Erdball, die meisten von uns integriert in Beziehungen, Familien, Freundeskreise – ja, es gibt sogar immer wieder auch Anerkennung für unsere Leistungen. Was fehlt uns?

Die berühmte Maslow'sche Bedürfnispyramide, eine sozialpsychologische Theorie über hierarchisch strukturierte Motivationen, scheint bis zur Spitze hinauf erfüllt. Aber es nützt offenbar wenig: Wir sind genauso zufrieden wie 1967. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich seither fast verdreifacht – die Zufriedenheit ist gleich geblieben. Wie kommt das?


Sinn des Wirtschaftens. Ein Grund mag sein, dass wir nicht mehr registrieren, was wir alles erledigen, schon gar nicht, was uns davon guttut. „Saxum volutum non obducitur musco“ – schreibt der römische Autor Publilius Syrus. „Ein Stein, der bewegt wird, wird nicht von Moos bedeckt.“ Hat er damit wirklich gemeint, dass wir uns ohne Unterbrechung rollen lassen müssen? Oder wie der koreanische und in Berlin lehrende Philosoph Byung-Chul Han schrieb: „Heute haben wir keine andere Zeit als Arbeitszeit.“ Den Maschinen des Industriezeitalters seien die neuen, Zwang und Sklaventum hervorbringenden, digitalen Apparate gefolgt. Die völlige Mobilität hat dafür gesorgt, dass wir den Arbeitsplatz überall vorfinden. Da Muße dort beginnt, wo Arbeit aufgehört hat, muss erstere notwendigerweise verschwinden. Sind wir zum Animal laborans verkommen?

Es kommt darauf an, wie wir Arbeit definieren. Sehen wir sie noch als eine Tätigkeit, die wir am Arbeitsplatz verrichten, sind wir nicht zum Arbeitstier degeneriert. Doch ist Muße heute wirklich Muße, im Sinne von Denken, dessen „teils völliges Fehlen“ die Philosophin Hannah Arendt schon 1958 beklagt hat? Haben Politiker, PR-Berater, Journalisten, Facebooker und Twitterer vor oder nach Versenden ihrer Botschaft gedacht? Es ist zur Gewohnheit geworden, Zeitmangel als Begründung für Schnellschüsse anzugeben, statt Gleichzeitigkeit und die völlige Aufgabe ordnender Rhythmen als Hauptproblem zu sehen. Die deutsche Gesellschaft für Konsumforschung hat herausgefunden, dass jeder dritte Deutsche zwischen 19 und 49 Jahren Internet und TV gleichzeitig nutzt. 2004 waren es nur acht Prozent. Jeder Deutsche von eins bis 100 empfing 2012 täglich im Schnitt 25,7 E-Mails. Die Zahl der diagnostizierten ADHS-Fälle bei den unter 19-jährigen hat sich in nur fünf Jahren um 42 Prozent erhöht.

Agiert und vor allem reagiert wird Tag und Nacht. Wie viele Mails, SMS oder Tweets, die Sie unmittelbar nach Erhalt einer wenig schmeichelhaften Botschaft verfasst haben, haben sie nur wenige Augenblicke später bereut?

Laut einer Studie der University of California hat sich seit dem Jahr 1825 das Kommunikationstempo zwischen Menschen um das exakt Zehn-Million-Fache erhöht, das Reisetempo verhundertfacht und die durchschnittliche Schlafzeit ist um zwei Stunden zurückgegangen. Das Problem ist aber nicht nur die Beschleunigung. Das Problem ist, dass sie immer weniger bringt. Eine andere Studie zeigt, dass ein durchschnittlicher Amerikaner 1500 Stunden im Jahr im Auto sitzt. Dabei legt er im Schnitt 12.000Kilometer zurück. Macht 8 km/h. Dieses Tempo nennt man in der Laufsprache „langsamen Erholungslauf“. Ein Menschenleben in Deutschland wird übrigens zu rund 2,5 Jahren im Auto verbracht (ohne Stauzeiten) – wenn man von 80 Jahren Lebenserwartung ausgeht. Was aber machen wir als Erwachsene in den restlichen Jahren? Vor allem schlafen, dann arbeiten. Übrigens: Eine Minute dauert noch immer eine Minute – die Formulierung „Beschleunigung der Zeit“ ärgert vor allem Physiker. Sie sprechen lieber von einer selbst verursachten Überlagerung multipler Gegenwarten.

Schuld an allem ist der „neoliberale Imperativ der Leistung“, formuliert es Byung-Chul Han. Nun, so einfach können wir es uns nicht machen. Natürlich findet die Ökonomisierung aller Lebensbereiche statt. Auch Muße heißt heute Freizeitaktivität oder Wellnessangebot, und wenn uns gar nichts mehr zu arbeiten einfällt, leisten wir eben Beziehungsarbeit, Trauerarbeit oder uns selbst für gutes Geld eine Arbeitsstunde beim Psychotherapeuten.

Nein, nicht der böse Kapitalismus ist an all dem schuld, was der Mensch von heute beklagt. Zumindest nicht der reale Kapitalismus, in dem es noch vorwiegend um Produkte gegangen ist. Letztlich ist es die „Liebe zum Geld“, sagt der gleichermaßen verehrte und verhasste Ökonom John Maynard Keynes. Erst, wenn wir nicht mehr am Geld an sich hängen, sondern begreifen, dass – so Keynes – „ das Streben nach Geld nur insofern gerechtfertigt ist, als es zu einem guten Leben führt“, wird sich etwas ändern.


Die Liebe zum Geld. Geld, um damit mehr Geld zu schaffen, mag zwar ein Ziel der Akteure im Finanzkapitalismus sein – mit einem anstrebenswerten Leben hat das sehr wenig zu tun. Oder legen wir es auf Produkte um: Macht es mich glücklich, weil ich mit einem neuen iPhone mehr und besser kommunizieren, lesen oder spielen kann, oder will ich das jeweils neueste Produkt einfach haben? Will ich künftig mehr Bergstraßen auf Schnee bezwingen, oder will ich den neuesten Allrad-SUV einfach haben? Dem Kapitalismus die Schuld am eigenen Nicht(nach)denken zu geben, das wäre zu billig.

Ähnlich ist es beim Geld. Grundsätzlich könnte man ja meinen, der Mensch wolle lieber Produkte als Geld. Könnte man. Das Weltfinanzierungsvolumen, die Gesamtheit aller Kredite und Finanzprodukte sowie die Geldströme an den Devisenmärkten, ist rund 70-mal so groß wie jene Geldflüsse, die sich auf Güter und Dienstleistungen, also auf die viel zitierte Realwirtschaft, beziehen. Das alles liegt nicht nur an den Wallstreet-Boys und ihren Anhängern in den Wertpapierabteilungen der weltweit tätigen Großbanken. Es liegt an uns. Und an der Ökonomie, wie sie an den Lehrstühlen der Welt gelehrt wird.

Es geht um Eigennutz, rationales Denken, kühles Rechnen – das, was den Homo oeconomicus ausmacht. Alles andere seien soziale Spinnereien oder gar „Unsinn“, wie es Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek formuliert hat. Und doch steigt auch die Zahl jener Gelehrten, die Ökonomie wieder auf ein philosophisches Fundament gestellt haben. So meint Tomáš Sedláček in seinem Werk „Die Ökonomie von Gut und Böse“, dass unser Weltbild daran kranke, das Paradies immer nur in der Zukunft zu sehen. Das erklärt die permanente Unzufriedenheit des Menschen, weil er eben immer das Neue will. Unsere Bedürfnisse wachsen und wachsen, tun sie es nicht, wird einfach Mangel – die Triebfeder des Wirtschaftens – erzeugt. Mangel an lieferbaren neuen iPhones, Mangel an Liveübertragungen bestimmter Sportereignisse, Mangel an Kleidung einer bestimmten Marke. Herrlich die scharfe Polemik des slowenischen Philosophen Slavoj Žižek gegen die Bedeutung von Coca-Cola durch perfekte Bedürfniserzeugung aus dem Jahr 2000 („die völlige Überflüssigkeit dieses Getränks macht den Durst danach noch unstillbarer“).

Wenn Ihnen jemand vor 20 Jahren erklärt hätte, dass sie ein Produkt kaufen werden, mit dem sie 24 Stunden in jeder Lebenslage und an jedem Ort der Erde erreichbar sein könnten, hätten Sie laut „Hurra“ gerufen? Immer mehr von uns sind nicht mehr Spieler, sonst längst Ball geworden. Auf dem Feld links die Technik, Feld rechts Wirtschaft und Marketing. Je mehr Cola man trinkt, desto durstiger wird man, je mehr Gewinn der Unternehmer erzielt, desto mehr will er machen. Je mehr wir mitspielen, desto betrübter fühlen wir uns, und ganz am Ende sogar schuldig.

Aber letztlich geht es mit diesem System mehr Menschen gut als je zuvor. Es sei denn, die Überforderung des Ich oder auch Verteilungsungerechtigkeit bringen es zum Kippen. Deshalb ist Nachdenken angesagt. Noch regieren Neoklassiker und Wachstumsfetischisten die Wirtschaftsuniversitäten. Wobei der Glaube an Wachstum keine politische Frage ist. Da sind sich Volksparteien, Sozialdemokraten und Grüne (bloß mit dem Wörtchen „Öko“ davor) einig. Noch glauben die meisten, dass es irgendwie schon weiter- und weitergeht. Wir müssen aber nicht warten, bis die Natur endgültig ökologische Grenzen setzt. Es genügt die Selbstausbeutung, die drauf und dran ist, die Marx'sche Fremdausbeutung des Arbeiters durch den Kapitalisten abzulösen. Wir können auch selbst kurz innehalten und das tun, worauf der Mensch angeblich am allermeisten Lust hat. Nichts.

Zur Person

Hans Bürger
Geboren am 18. 7. 1962 in Linz. Der studierte Volkswirt ist seit 1987 beim ORF. 2002 wurde Hans Bürger „ZiB“-Ressortleiter Inland/EU. Zudem ist er Gastgeber der TV-„Pressestunde“.
ORF

Autor

Hans Bürger: Der vergessene Mensch in der Wirtschaft,
Braumüller-Verlag

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.03.2014)

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