Harvard-Ökonom: "Russland ist ein völlig normales Land"

Das desaströse Bild der russischen Wirtschaft in unseren Köpfen ist völlig falsch, meint Andrei Shleifer.

WIEN (ku). In der landläufigen Meinung, auch unter Experten, gilt Russland als Fall einer gescheiterten Transformation, als Desaster und Katastrophe für die Bevölkerung. "Aber diese Ansicht ist völlig falsch", ist der in Harvard lehrende Ökonom Andrei Shleifer, der zum Wochenende auf Wien-Besuch war, überzeugt. Russland sei vielmehr ein "völlig normales Land" - exakter: eine typische kapitalistische Demokratie mit mittlerem Einkommen. Es sei zwar richtig, dass das russische Pro-Kopf-Einkommen im Vergleich zu Industriestaaten geringer sei - "aber Russland war immer ein Land mit mittlerem Einkommen". Deshalb müsse man Russland mit ähnlichen Staaten vergleichen. Und das seien unter anderem Argentinien, Brasilien oder Malaysia.

Shleifer brachte bei einem Vortrag in der Gutmann Bank eine Reihe schlagender Argumente für seine Ansicht. Man müsse etwa den angeblich so drastischen Wirtschaftseinbruch kritisch hinterfragen. Laut offiziellen Daten ist das Bruttoinlandsprodukt von 1990 bis 1998 um 36 Prozent gesunken (und steigt erst in den letzten fünf Jahren wieder stark an). Das spiegle aber keinesfalls die ökonomische Realität wider - und zwar aus drei Gründen: Erstens sei das Niveau 1990 um Rüstungsausgaben und fiktive Werte nicht realisierter Projekte aufgebläht. Zweitens sei ein Gutteil, nämlich rund 30 Prozent, der postkommunistischen Wirtschaft auf Schwarzmärkten abgewickelt worden. Eine grobe Schätzung für diesen Anteil leitet er aus dem Strom-Absatz ab, der nur um 19 Prozent gesunken ist. Und drittens sei der Lebensstandard nicht um ein Drittel eingebrochen, wie man aus der Entwicklung der Konsumausgaben erkennen könne: Diese lagen im schlechtesten Jahr um elf Prozent unter dem Wert von 1990 und 2001 um vier Prozent darüber.

Bei vielen Punkten werde Russland zu Unrecht eine - in negativer Hinsicht - Sonderstellung zuerkannt. Etwa bei der Finanzkrise der späten 90er Jahre. Dem hält Shleifer entgegen, dass es in den 80er und 90er Jahren weltweit 30 Finanzkrisen gegeben habe. Auch beim Einfluss der Oligarchen - die bei der Privatisierung billigst zu riesigen Wirtschafts-Imperien kamen - auf die Regierung stehe Russland nicht allein da. Dazu brauche man nur nach Italien zu schauen. "Ich will damit nicht sagen, dass die Oligarchen nette Leute sind", betont er. Aber dass sich diese ausschließlich auf Kosten der Gesellschaft bereichern, stimme einfach nicht, wie die steigenden Investitionen der großen Energiegesellschaften zeigten.

Auch von einem außergewöhnlichen Demokratie-Defizit will Shleifer nichts hören. Die Situation sei zwar nicht perfekt, aber die sechs Wahlen zwischen 1991 und 2000 seien alle von internationalen Beobachtern recht positiv beurteilt worden. Auch bei Korruption und Pressefreiheit sei Kritik berechtigt, doch ist die Beeinträchtigung nicht größer als anderswo. Bei der Pressefreiheit liegt Russland laut International Press Institute sogar besser als Österreich.

In einem Punkt freilich stimme der katastrophale Ruf: bei der drastisch gesunkenen Lebenserwartung. Der Grund dafür liegt in Russland aber nicht in der Armutserscheinung hohe Säuglingssterblichkeit, sondern im Alkoholmissbrauch. Der Wodka-Preis ist seit 1990 auf ein Viertel (!) gesunken.

Was bringt aus dieser Sichtweise die Zukunft? Russland werde sich so entwickeln, wie man es von Ländern mit ähnlichem Entwicklungsstand kenne, so Shleifer: "Es ist mit Instabilitäten zu rechnen."

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