„Indien sitzt auf Subprime-Zeitbombe“

(c) AP (Manish Swarup)
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Bis 2050 wird Indien zu der Wirtschafts-Weltmacht schlechthin werden. Bisher hat jeder vierte Inder vom Aufschwung profitiert, 41 Millionen leben in Slums.

Wien/ Neu-Delhi. Knapp 20 Jahre nach der Öffnung der Märkte wächst die Wirtschaft am indischen Subkontinent unbeirrt um rund neun Prozent. Doch die Opfer, die für den Aufschwung zu bringen sind, seien groß und Indiens Wirtschaft durchaus verwundbar, sagt C.P. Chandrasekhar, Professor für Ökonomie und Planung an der Universität New Delhi im Gespräch mit der „Presse“.

So erlebe der viel gelobte IT-Sektor zwar einen Boom, sein Anteil am BIP sei jedoch gering, warnt der Ökonom. Außerdem machen die großen IT-Firmen zwei Drittel ihres Umsatzes in den USA, sind damit also von der Wirtschaftslage in Amerika abhängig. Wachstum erwartet er eher von der Industrie. Allen voran von der Stahlbranche, deren Exporte nach China stark steigen, von der Textil-, und der Unterhaltungsbranche.

Traumfabrik Bollywood

In Film und Fernsehen spiegeln sich auch die zwei Realitäten, zwischen denen das Land pendelt, am besten wider. Denn niemand, der indisches Fernsehen sieht, würde auf die Idee kommen, dass es auch ein ländliches Indien gibt, sagt Chandrasekhar. Ein Indien, in dem sich in den vergangenen Jahren 100.000 Bauern in den Selbstmord geflüchtet haben. Sie haben nach der Liberalisierung auf die „cash crops“ Kautschuk und Kaffee gesetzt. Fallen hier die Weltmarktpreise, von denen die Bauern ohnedies nur ein Drittel bekommen, haben sie keine Chance, ihre Kredite zurückzuzahlen.

„Die sozialen Spannungen im Land werden immer größer“, sagt Chandrasekhar. In Bombay und Delhi sehe man zwar die neue Mittelschicht, jene 300 Millionen Inder die tatsächlich stark von Aufschwung profitiert haben. Ihnen gegenüber stehen aber 41 Millionen Inder, die in Slums hausen. Drei Viertel der Bevölkerung muss mit weniger als einem halben Dollar am Tag auskommen. Sie passen nicht in das Bild vom gut ausgebildeten IT-Dienstleister. 39 Prozent aller Inder über 15 Jahren können weder lesen noch schreiben. „Nur für 20 Prozent der Inder haben sich die Lebensbedingungen seit 1990 verbessert“, sagt Nalini Rajan, Leiterin des Asian College of Journalism in Chennai.

Neues Indien lebt auf Pump

Anders als in China ist es in Indien der private Sektor, der die Konjunktur antreiben soll. Die „neureiche Mitte“ lässt sich auch nicht lange in die Kaufhäuser bitten. „Egal ob BMW, Mercedes, Royce Rolls oder Toyota. Man kann jedes Auto in Indien kaufen“, sagt Chandrasekhar. „Aber wozu? Es gibt nicht mal richtige Straßen.“

Finanziert wird der neue Lebensstil der indischen Mittelschicht hauptsächlich über Kredite. „Indien sitzt auf einer Subprime-Zeitbombe“, warnt der Ökonom. Gemeint ist die Zahl der unbesicherten Konsumentenkredite, die in den vergangenen Jahren um durchschnittlich 30 Prozent gestiegen ist. Gerade Autos werden gerne auf Pump gekauft. „Wir sehen die meisten klassischen Signale für eine Überhitzung“, sagt auch Sameer Goel von der Deutschen Bank. „Es gibt Engpässe auf dem Arbeitsmarkt, Immobilienpreise, die immer weiter ansteigen und einen Kreditboom“.

Chandrasekhar fordert mehr Regulierung nicht nur bei den Banken, sondern auch auf dem Finanzmarkt. Indiens Leitindex Sensex hat im abgelaufenen Quartal den schärfsten Einbruch seit 1979 verzeichnen müssen. Zehn Jahre nach der Asienkrise stellt sich die Frage, ob die Länder der Region daraus gelernt haben. 1998 waren die Staaten rund um Thailand aufgrund der schnellen Öffnung ihrer Finanzmärkte in Probleme geraten. Indien hielt seinen Finanzmarkt dicht und entging der Krise. Mittlerweile hat sich Indien geöffnet. Chandrasekhar sieht in der Krise eine Lehre, die alle Entwicklungsländer ziehen sollten: „Mehr Wunder als im Vatikan gibt es nur in den Entwicklungsländern“, sagt er. „Lange galt Südkorea als Wunderkind. Doch die Wunder von gestern kennt heute keiner mehr.“

AUF EINEN BLICK

Indiens Wirtschaft setzt ihren Aufschwung unbeirrt von der internationalen Finanzkrise fort. Auf dem Weg zur Wirtschaftsmacht bleiben aber Millionen an armen Indern auf der Strecke. C.P. Chandrasekhar, Ökonom an der Universität New Delhi, gibt der zu raschen Öffnung der Finanzmärkte die Schuld daran.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2008)

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