Das Bundesverwaltungsgericht befasst sich mit mehreren Beschwerden gegen das Milliardenprojekt, der Bau ruht unterdessen.
Wien. Im endlosen Gezerre um Bau oder Nichtbau des Semmering-Eisenbahntunnels ist seit gestern ein neues Kapitel aufgeschlagen: Vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) in Wien werden mehrere Beschwerden gegen das 3,3 Mrd. Euro (ohne Finanzierungskosten) teure Tunnelprojekt verhandelt. Der Bau des Tunnels, für den die Vorarbeiten bereits abgeschlossen sind, ruht bis zu einer rechtsgültigen Entscheidung. Gegenstand der Verhandlung ist unter anderem der im Vorjahr aufgehobene UVP-Bescheid (UVP = Umweltverträglichkeitsprüfung) des Bundes. Auch die Naturschutz- und Wasserrechtsbescheide der betroffenen Bundesländer Niederösterreich und Steiermark stehen zur Debatte.
Insgesamt treten sechs Beschwerdeführer auf, darunter die Alliance for Nature und mehrere Bürgerinitiativen. Gleich zu Beginn der Verhandlungen mussten die Beschwerdeführer allerdings einen Dämpfer einstecken: Das Ansuchen, das BVwG möge sich für die Landesbescheide unzuständig erklären, wurde ebenso abgelehnt wie der Befangenheitsantrag gegen den Gutachter Leopold Weber. Auch den Befangenheitsantrag gegen sich lehnte Richter Werner Andrä ab. Andrä hatte früher im Amt der niederösterreichischen Landesregierung gearbeitet, das unter anderem für einige Semmering-Bescheide zuständig war.
Die Positionen am ersten Tag: Die ÖBB vertreten den Standpunkt, dass die alte Ghega-Strecke über den Semmering nicht mehr zeitgemäß sei und der Tunnel eine Zeitersparnis und Erleichterungen im Güterverkehr Richtung Süden bringe. Die Tunnelgegner brachten wasserrechtliche Bedenken ein, weil wegen des Baus 450 Liter Wasser pro Sekunde (das entspricht dem Wasserverbrauch von Graz) aus dem Tunnel ausgeleitet werden. Zudem sei der Status der Ghega-Bahn als Weltkulturerbe in Gefahr.
Zu optimistische Prognosen
Bezweifelt werden von den Tunnelgegnern auch die Verkehrsprognosen, mit denen die Bahn die wirtschaftliche Notwendigkeit des Tunnels untermauert. Die scheinen speziell beim Güterverkehr tatsächlich sehr gewagt zu sein: Im Gegensatz zu den Annahmen des Infrastrukturministeriums stagniert der Bahn-Güterverkehr nämlich de facto seit Längerem. Das trifft vor allem auf Osteuropa zu, das als „Quellgebiet“ für die Semmeringstecke Bedeutung hat.
Nach der gültigen Verkehrsprognose des Ministeriums, der die Wirtschaftlichkeitsberechnungen für den Semmeringtunnel zugrunde liegen, sollte der Bahn-Güterverkehr österreichweit von 90,8 Mio. Tonnen im Jahr 2000 auf 140,9 Mio. Tonnen in diesem Jahr steigen, um bis 2015 auf 186,2 Mio. Tonnen zu klettern. Tatsächlich dürften heuer aber nicht einmal 100 Mio. Tonnen auf der Bahn transportiert werden. Davon geht rund ein Zehntel über den Semmering.
Auch bei den Wirtschaftlichkeitsberechnungen gibt es gewaltige Differenzen: Nach einem ÖBB-Gutachten bringt der Tunnel einen volkswirtschaftlichen Multiplikatoreffekt von 5,5. Eine deutsche Studie (Vieregg-Rössler) kommt dagegen nur auf 0,4. ÖBB-Chef Christian Kern hatte den Multiplikatoreffekt in einem „Presse“-Interview mit 0,9 (Bauphase) bis 1,3 (Betrieb) angegeben. (red./APA)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.01.2015)