Wo sich die Schere öffnet – und schließt

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Nimmt man die Welt als Ganzes, ist der Trend zu mehr Ungleichheit bei den Einkommen gebrochen. In vielen Ländern aber nimmt sie zu – vor allem in den Industriestaaten.

Die Ungleichheit nimmt zu! Die Ungleichheit nimmt ab! Es ändert sich gar nichts! – Wenn es um die Schere zwischen Arm und Reich geht, ist für Verwirrung gesorgt. Denn tatsächlich haben alle drei Sichtweisen auf ihre Art recht. Man muss nur alles sauber auseinanderhalten und sich auf einen Maßstab einigen. Da bietet sich der Gini-Koeffizient fürs Einkommen an. Er liegt zwischen Null und Eins. Je höher, desto ungleicher die Verteilung. Bei Null hätte jeder gleich viel. Bei Eins hätte einer alles, alle anderen nichts.

Steigen wir aus der Vogelperspektive ein. Wenn es heißt, die Einkommen seien „weltweit“ immer ungleicher verteilt, denken dabei viele an die Welt im Ganzen, als wäre sie ein einziges großes Land. So gesehen ist die Behauptung falsch. Der „globale Gini“ stieg zwar seit 1820 über eineinhalb Jahrhunderte dramatisch an. Die industrielle Revolution löste in Europa und Nordamerika eine historisch beispiellose Zunahme an Wohlstand aus. Andere Weltregionen blieben zurück − was eine gewaltige Schere eröffnete.

Aber in den letzten Jahrzehnten ist eine Trendwende zu beobachten. Experten erwarten einen weiteren Rückgang in den kommenden Jahrzehnten. Denn während in den Industriestaaten das Wachstum abflacht, holen die Schwellenländer rasch auf. Das ist, kosmopolitisch gedacht, ein Grund zur Freude. Aber es hilft bei der konkret erlebten Ungleichheit wenig weiter. Eine Rolle spielt es noch bei benachbarten Weltregionen wie Afrika und Europa, was sich in der Flüchtlingskrise zeigt. Gerade hier nehmen die enormen Unterschiede aber kaum ab, weil sich Afrika im Schnitt weit weniger dynamisch entwickelt als China oder Indien.

Sozialer Sprengstoff. Den größten sozialen Sprengstoff aber kann Ungleichheit dort entwickeln, wo Reich und Arm direkt aufeinandertreffen, innerhalb eines Landes. In diesem Sinne stimmt die Behauptung, dass sie „weltweit“ zunehme, weil sie in vielen oder sogar den meisten Staaten steigt. Die Gründe dafür sind freilich ganz unterschiedlich. In einem Schwellenland wie China läuft es zurzeit ähnlich wie in der industriellen Revolution: Während ein Teil der Bauern in die Stadt zieht, in Fabriken arbeitet und deutlich mehr verdient, bleibt ein anderer Teil auf den Reisfeldern zurück. Dadurch wachsen temporär die Unterschiede. In Skandinavien hingegen galt es, den Wohlfahrtsstaat einzubremsen, um ihn weiter finanzierbar zu halten. Zumindest in einer Weltregion sind die Einkommen heute gleicher verteilt als früher: in Südamerika. Freilich waren dort die Gini-Koeffizienten unter den höchsten der Welt. Denn der Großgrundbesitz sorgte für extremes soziales Gefälle, das erst durch Landreformen und Industrialisierung gemildert wurde.

In den meisten Staaten der westlichen Welt aber geht der Gini-Koeffizient seit Ende der 80er-Jahre stetig nach oben – in den USA stark, in Westeuropa um ein paar Punkte. Damit ist ein egalitärer Trend gebrochen, der die Wirtschaftswunderzeit geprägt hatte. Die Politik hält mehr oder weniger dagegen. Der wichtigste Auslöser ist eine Kombination aus technologischem Fortschritt und Globalisierung. Produziert wird immer öfter in Schwellenländern. Entwicklung und Design aber kommt in immer rascheren Zyklen weiter aus der westlichen Welt. Auch die Umbrüche durch Digitalisierung und Finanzindustrie bieten Chancen für gut ausgebildete Wissensarbeiter.

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Singles und Heiratssachen. Aber das Angebot kommt mit der Nachfrage nicht mit, was diehöheren Gehälter weiter nach oben treibt. Zugleich geht die Nachfrage nach einfachen Tätigkeiten zurück. Textilien werden in Bangladesch genäht, Bauarbeiter kommen aus Rumänien, an der EDV-Hotline meldet sich ein Call Center in Indien. So sinken zuhause die Löhne der unteren Dezile – die Kluft wird tiefer. Immerhin ein Fünftel der wachsenden Ungleichheit ist auf die Globalisierung zurückzuführen. Man könnte also vereinfacht sagen: Mehr globale Gleichheit ist durch mehr nationale Ungleichheit in Industriestaaten erkauft.

Ein weiterer Faktor: Zum Sozialstaat gehört ein Arbeitsrecht, das Mitarbeiter vor Kündigungen schützt. Ein immer bewegteres Umfeld mit unklaren Aussichten führt aber dazu, dass Unternehmen weniger Mitarbeiter fix anstellen und auf prekäre Dienstverhältnisse ausweichen. Der Schutz sollte zu mehr Gerechtigkeit führen und fördert nun Ungleichheit: Die Älteren sind (noch) im geschützten Bereich, die Jungen kommen nicht mehr hinein.

Dazu kommt der gesellschaftliche Wandel. Singles, von denen es immer mehr gibt, können keine Mittel poolen oder Ausgaben teilen. Wer sich aber bindet, sucht seinen Partner nun meist in der gleichen Einkommensschicht. Die Zeiten, in denen der Chef die Sekretärin und der Oberarzt die Krankenschwester heiratete, sind offenbar vorbei. An solche Tendenzen denkt freilich nicht, wer sich über wachsende Ungleichheit empört. Deshalb zieht die Entwarnungsfraktion solche Erklärungen gern heran, um das Thema sanft ins Lächerliche zu ziehen. Die OECD betont aber, dass Gesellschaftliches eine weit geringere Rolle spiele als Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt.

Damit können wir den Blick nun aufs Nahe richten. Österreich und Deutschland sind anders: Hier stagniert die Ungleichheit aktuell auf moderatem Niveau. In Deutschland stieg der Gini-Koeffizient zwar zwischen 1991 und 2005 von 0,25 auf 0,29 an. Damit aber war der Gipfel erreicht. Den Trend gebrochen hat die deutlich gesunkene Arbeitslosigkeit. Denn dass Menschen wieder in Beschäftigung kommen, ist der größte „natürliche“ Hebel zum Schließen der Schere.

Keine Insel der Seligen. Und in Österreich? Da fluktuiert der Gini-Koeffizient seit eineinhalb Jahrzehnten in einem Band zwischen 0,24 und 0,28. Mal geht er ein wenig hinauf, dann wieder ein wenig hinunter. Eine Insel der Seligen? Der Schein trügt: Bei den primär, aus eigener Arbeitskraft, erzielten Markteinkommen ist die Ungleichheit weit höher. Aber sie wird durch staatliche Umverteilung besonders stark gedämpft, wie das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo) gezeigt hat. Nicht so sehr im ersten Schritt durch Steuern, die in Österreich in Summe wenig umverteilend wirken. Zwar ist natürlich die Einkommenssteuer progressiv, aber die für alle gleich hohe Mehrwertsteuer vermindert den Effekt. Erst der zweite Schritt, die Sozialtransfers an die Bezieher niedriger Einkommen, bügelt die Unterschiede deutlich aus.

Zuletzt ein Blick aufs Vermögen. Seine ungleiche Entwicklung rückt seltener ins Bild. Das liegt auch daran, dass die Abgrenzung schwer (Stichwort Pensionsansprüche) und die Zahlen zwischen Ländern kaum vergleichbar sind (Stichwort Miete versus Eigentum, siehe Artikel links). Dennoch scheint es nur logisch, dass die Konzentration der Vermögen weltweit zunimmt. Denn wer viel hat, dem fließt auch viel an Erträgen zu – solange nicht Kriege, Börsenkrachs oder Hyperinflation das Ersparte vernichten. Darunter aber würden alle leiden, Reiche wie Arme.

Um die Konzentration zu dämpfen, kann man von zwei Seiten ansetzen: Man kann Vermögende stärker besteuern – was vor allem bei Erbschaften den Leistungsanreiz weit weniger drückt als die Besteuerung des Gehalts. Doch ein solcher Umbau im Steuersystem stößt bekanntlich auf praktische Probleme. Die Alternative ist, die Vermögensbildung bei denen zu fördern, die noch keines haben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2015)

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