Wie viel Ungleichheit kann die Gesellschaft ertragen?

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THEMENBILD: OBDACHLOSE / OBDACHLOSIGKEIT / SOZIALES / ARMUT(c) APA/ROLAND SCHLAGER (ROLAND SCHLAGER)
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Es ist eine gängige These, dass die Armut in Österreich ständig zunimmt. Zwei Ökonomen des Thinktanks Agenda Austria haben diese These hinterfragt.

Seit Erscheinen des Bestsellers „Das Kapital des 21.Jahrhunderts“ des französischen Ökonomen Thomas Piketty reißt die Debatte über die Vermögensverteilung nicht ab. Das Buch gilt als Bibel der Linken. Die Kernthese des Ökonomen lautet, dass die großen Vermögen immer größer werden und die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Das Europäische Forum in Alpbach beschäftigt sich mit dem Thema Ungleichheit. Der Thinkthank Agenda Austria hat nun die gängigen Thesen dazu hinterfragt. Die Studienautoren Hanno Lorenz und Michael Christl sind dabei zu überraschenden Ergebnissen gekommen.

Steigt in Österreich die Armut?

Oft ist zu hören, dass in Österreich die Reichen reicher und die Armen ärmer werden. Laut Statistik ist seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise der Anteil der Armutsgefährdeten aber von 15,2 Prozent im Jahr 2008 auf 14,1 Prozent im Jahr 2014 gesunken. „Es ist also nicht von der Hand zu weisen, dass die Umverteilung im österreichischen Sozialstaat Erfolge aufweisen kann“, sagen die Autoren. Trotzdem stellt sich für sie die Frage, warum mit der Umverteilung (2014 waren es mehr als 90 Milliarden Euro) nicht mehr Menschen aus der Armut befreit werden können.

Was bedeutet „Armut“ in Österreich? Als armutsgefährdet gelten jene Haushalte, deren Nettohaushaltseinkommen bei weniger als 60Prozent des Medians aller Einkommen liegt. In Österreich ist somit ein Singlehaushalt mit einem verfügbaren Einkommen von weniger als 1161 Euro pro Monat (abzüglich aller Steuern und Transfers) armutsgefährdet. Je mehr Studentenhaushalte, umso höher die statistische Armut. Obdachlosigkeit wird hingegen, mangels eines Haushalts, gar nicht von der Statistik erfasst.

Wenn alle Einkommen steigen, steigt natürlich auch die Grenze für die Armutsgefährdung. In Europa haben nur Luxemburg, Norwegen und die Schweiz höhere Armutsgrenzen als Österreich. Um den Österreich-Wert von 1161 Euro EU-weit vergleichen zu können, muss er kaufkraftbereinigt werden: Das ergibt 1045 Euro.

(C) DiePresse

In Deutschland liegt die Armutsgrenze bei 974 Euro, in Italien sind es 761, in Rumänien hingegen lediglich 197 Euro. In Österreich ist die Armutsgrenze seit 1999 um 61,5Prozent gestiegen, das Preisniveau um nur 36Prozent.

„Natürlich gibt es Armut in Österreich. Aber die Aussage, die Armut sei so groß wie nie zuvor, ist nicht haltbar. Viele Menschen, die heute als armutsgefährdet gelten, wären das vor zehn Jahren noch nicht gewesen“, sagt Studienautor Hanno Lorenz.

Sind die Einkommen zu ungleich verteilt?

Vertreter der SPÖ, der Gewerkschaften und der Arbeiterkammer betonen, dass in Österreich die Einkommen zu ungleich verteilt sind. Stimmt das? Der am häufigsten verwendete Index zur Darstellung der Einkommensverteilung ist der Gini-Koeffizient. Dieser zeigt immer Werte zwischen null und eins an. Während bei einem Wert von eins eine Person das gesamte Volkseinkommen bezieht, würden bei einem Wert von null alle Personen das Gleiche verdienen. Der Gini-Koeffizient vor Sozialleistungen und Renten in Österreich liegt bei 0,48, nach Sozialleistungen bei 0,28. Dies zeigt, dass „Österreich ein durchaus leistungsorientiertes Entlohnsystem aufweist“, so die Agenda-Austria-Autoren. Es zeige auch, „dass die Umverteilung via Sozialleistungen ihre Wirkung nicht verfehlt“. Tschechien, Schweden, die Niederlande, Finnland und Belgien haben im EU-Vergleich nach Sozialleistungen und Renten einen niedrigeren Gini-Koeffizienten. Faktum ist allerdings auch, dass sich in den Jahren von 2005 bis 2015 in Österreich die Verteilung der Einkommen leicht in Richtung mehr Ungleichheit bewegt hat. Die Agenda-Austria-Autoren zeigen, dass zum Beispiel die alternde Bevölkerung die Ungleichheit erhöht. „Da die letzten Jahre vor der Pensionierung in Österreich die einkommensstärksten sind (Senioritätsprinzip) und das Einkommen mit der Pensionierung zumeist drastisch sinkt, führt dies zwangsläufig zu einer ungleichen Einkommensverteilung.“ Hinzu kommt der rasante Anstieg der Teilzeitbeschäftigung. Damit sinkt der Medianlohn ebenso wie das Durchschnittseinkommen. Oft wird behauptet, dass viele Menschen gegen ihren Willen in die Teilzeit gedrängt werden. Doch einer Umfrage zufolge trifft das auf 9,2 Prozent der Teilzeitbeschäftigten zu. „Man kann also davon ausgehen, dass der Anstieg der Teilzeitbeschäftigung eher ein Zeichen eines gut ausgebauten Sozialstaats als ein Zeichen dafür ist, dass immer mehr Arbeitnehmer in prekäre Arbeitsverhältnisse gezwungen werden“, heißt es in der Studie. Fazit: Positive gesellschaftliche Entwicklungen wie etwa eine längere Lebenserwartung oder eine wachsende Zahl an Akademikern steigert – statistisch gesehen – die Ungleichheit.

„Es fällt auf, dass vor allem die Vertreter des stark ausgebauten Sozialstaats die Zahlen dramatisieren – statt die Erfolge zu feiern. Wie zum Beispiel, dass die Einkommensschere in Österreich praktisch nicht aufgeht. Dafür wird sehr viel Steuerzahlergeld ausgegeben, das aber auch ankommt. Stattdessen wird kritisiert, dass die Gesellschaft immer ungleicher wird. Warum? Vermutlich um die Einführung von Erbschafts- oder Vermögensteuern zu untermauern“, sagt Michael Christl.

Sind die Vermögen zu ungleich verteilt?

Es heißt, dass in kaum einem Land Vermögen so ungleich wie in Österreich verteilt sind. Doch wie werden Vermögen gemessen? Die Notenbanken befragen ausgewählte Haushalte nach ihrem Vermögensbesitz. Diese Angaben sind kaum kontrollierbar. Oft über- oder unterschätzen Befragte ihr Vermögen. Zudem wird zwar private Altersvorsorge berücksichtigt, nicht aber öffentliche Pensionsansprüche. „Das ist relevant, weil die meisten Pensionisten in Österreich mehr ausgezahlt bekommen, als sie eingezahlt haben“, so die Autoren. Sie verweisen auf eine IHS-Studie, wonach bei Berücksichtigung der staatlichen Pensionsansprüche der Gini-Koeffizient der Vermögensverteilung nicht bei 0,77, sondern bei 0,48 läge.

Je ausgeprägter der Wohlfahrtsstaat, umso einseitiger ist Vermögen verteilt – etwa in Skandinavien. Je mehr Menschen Grund- und Immobilien besitzen, umso „gleicher“ ist das Vermögen verteilt. Österreich ist ein Land der Mieter, gehört bei Wohnungseigentum in Europa zu den Schlusslichtern. Wenn die Stadt Wien den sozialen Wohnbau forciert, geht die Schere zwischen Arm und Reich – statistisch wohlgemerkt – nicht zu, sondern auf.

Da aber Arbeit in kaum einem Land höher besteuert wird, können sich in Österreich nur wenige ein Eigenheim leisten. „Wer in Österreich 50.000 Euro brutto im Jahr verdient, zählt zu den Besserverdienern. Netto bleiben davon 31.600 Euro übrig. Damit lässt sich schwer Vermögen aufbauen“, sagen die Autoren.

Fazit: „Es geht nicht um Gleichheit um jeden Preis. Sondern darum, die Startpositionen von Kindern aus sozial benachteiligten Elternhäusern zu verbessern. Damit sie frei nach ihren Wünschen und Talenten leben können. Entscheidend ist also die Frage: Wie viel Gleichheit verträgt unsere Gesellschaft, wie viel Ungleichheit hält sie aus?“, so Michael Christl.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2015)

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