Studie: Die verflixte Schwelle der Schulden

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Gibt es eine Schuldenquote, ab der die Wirtschaft leidet? Selten haben Ökonomen so emotional gerungen wie um diese Frage. Nun glauben IWF-Forscher, das Rätsel gelöst zu haben.

Wien. Wer die Vorgeschichte nicht kennt, kann die Dramatik nicht erahnen. Gewohnt trocken fassen vier Ökonomen des Internationalen Währungsfonds (IWF) das Ergebnis ihrer Untersuchung zusammen: Eine fixe Schwelle, ab der die Staatsschulden im Verhältnis zum BIP dem Wirtschaftswachstum langfristig schaden, gibt es nicht. Das haben sie in 40 Länder für den Zeitraum von 1965 bis 2010 untersucht – und dabei Fallen aus älteren Studien vermieden. Statt auf den ominösen Grenzwert sind sie auf etwas anderes gestoßen: Wichtiger als die Höhe der Schuldenquote ist ihre Entwicklung. Etwa so: Ein Land, in dem die Quote ständig steigt, hat ein Problem. Einem anderen, stärker verschuldeten Land geht es aber gut – weil es seinen Investoren vorzeigt, dass es seine hohen Schulden abbauen kann.

Das ist der (sicher nur vorläufige) Schlusspunkt einer Debatte, in der die Emotionen hoch gekocht sind wie selten unter seriösen Volkswirten. Kenneth Rogoff, nebenbei Schachmeister und früher selbst Chefökonom des IWF, hatte 2010 Furore mit einer Arbeit über Schuldenquoten gemacht. Eher am Rande war dort die Rede von einem Grenzwert von 90 Prozent. Aber Politiker in den USA und der Eurozone griffen diese praktische Faustregel begeistert auf. Bald war die magische Schwelle in aller Munde: Ab 90 Prozent beginnt das Unheil, darüber darf es nicht gehen! Zwar hatten der Starökonom und seine Koautorin, Carmen Reinhart, es nie so schlicht gesagt, aber sie sonnten sich dann doch gern im Ruhm. Bis ein Student bei einer Seminararbeit dahinterkam, dass Rogoff ein simpler Rechenfehler passiert war: Er hatte bei einer Excel-Summenformel ein paar Zeilen und damit Länder nicht eingerechnet. Korrigiert man dies, zusammen mit ein paar fragwürdigen Gewichtungen, löst sich die plakative These vom allgemein gültigen Grenzwert in Luft auf.

„Hexenjagd“ und „Massaker“

Rogoff war über seine eigene Schwelle gestolpert. Prompt erntete er lauten Hohn von linken Kollegen, denen das nie in den keynesianischen Kram gepasst hatte. Vor allem Paul Krugman polterte wochenlang in seinem Blog gegen den „unglaublich peinlichen“ Fehler und das „Rätsel“, dass man die Studie „überhaupt jemals ernst genommen hat“. Bis Rogoff der Kragen platzte und er zurückschlug: Von einem „unfassbar unzivilisierten Verhalten“, einer „Hexenjagd“ und einem „Massaker“ war da die Rede.

Vom Kern rückte er nicht ab: Sehr hohe Schulden bedeuten niedrigeres Wachstum. Damit steht er keineswegs allein da. Ähnliche „Kipppunkte“, zwischen 85 und 95 Prozent, kamen in einer ganzen Reihe von Arbeiten heraus, die andere Methodologien und Datensets verwendeten. Auch Autoren, für die eine solche fixe Schwelle Schimäre bleibt, warnen in anderer Form vor hohen Schulden.

(c) Die Presse

Tatsächlich wäre es freilich fast ein Wunder, gäbe es wirklich eine Grenze, die überall und immer gilt. Zu viele Faktoren spielen hier mit. Länder wie Japan oder Italien, wo die eigenen Bürger einen Großteil der Bonds kaufen, können eine hohe Schuldenquote leichter verkraften als Griechenland, das ganz von den Launen externer Investoren abhängig ist. Schwellenländer haben oft schon bei niedrigen Ständen Probleme, weil ihre produktive Basis zu schwach bleibt, um die Kosten der Bedienung einzuspielen. Globale Krisen oder solche im Nachbarland schwappen herüber. Auch muss man bei der Deutung der Daten immer das Henne-Ei-Problem im Blick haben: Schrumpft die Wirtschaft, weil die Schulden hoch sind, oder muss der Staat viele Schulden machen, weil die Wirtschaft schrumpft?

Keine Schwelle, kein Freibrief

Die IWF-Autoren behaupten nun, solche Faktoren besser als bisher isolieren zu können. Sie stellen mit ihrem Fazit auch keinen Freibrief zum munteren Schuldenmachen aus. Zwar stützen sie die keynesianische Doktrin, wenn sie schreiben: „Deficit Spending, um das Wachstum anzukurbeln, muss nicht notwendigerweise langfristig negative Folgen haben“ – aber nur, wenn ein „glaubhafter Plan“ und auch die „Handlung“ dahinterstehen, die Bürde „auf ein nachhaltiges Niveau zurückzuführen“.

Das aber bleibt, von wenigen Staaten wie Deutschland abgesehen, graue Theorie: Ob in Österreich oder weltweit (siehe Grafik), die Schuldenquoten steigen seit vielen Jahrzehnten immer weiter an. Damit ist die neue IWF-Regel auf den zweiten Blick vielleicht sogar strenger als eine – relativ hohe – fixe Schwelle.

Weshalb dem so arg geprügelten Rogoff das Schlusswort gegönnt sei: „Wenn irgendjemand denkt, dass Rekordschulden in Ordnung sind, liegt er falsch. Die Geschichte lehrt das Gegenteil.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.09.2015)

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