Wien: Die soziale Zeitbombe

Junge Menschen beim AMS
Junge Menschen beim AMSDie Presse
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Fast 20.000 Wiener landen von der Schule direkt in der Mindestsicherung. Viele versuchen nicht einmal, eine Ausbildung zu beginnen.

Viel wurde in den vergangenen Wochen über die Kosten der Flüchtlingskrise diskutiert. Die Zahlen schwanken zwischen 400 Millionen und über einer Milliarde pro Jahr. Wird jemand in Österreich als Flüchtling anerkannt, hat er automatisch Anspruch auf die bedarfsorientierte Mindestsicherung. Sie ist in jedem Bundesland verschieden hoch. In Oberösterreich etwa erhält eine Person pro Monat 903 Euro Mindestsicherung, in Wien sind es derzeit 828 Euro.

Das Problem der hohen Sozialausgaben nur unter dem Eindruck der Flüchtlingsnot zu sehen ist aber zu kurz gegriffen. Schon heute beziehen knapp neun von 100 Wienern eine Mindestsicherung. Insgesamt waren es 2013 mehr als 150.000 Wienerinnen und Wiener. Und die Zahl steigt jedes Jahr dramatisch an. 2010 gab es in der Hauptstadt noch 106.000 Bezieher einer Mindestsicherung.

Wie kommt es zu dieser veritablen sozialen Verelendung in der Stadt? Warum steigt die Zahl der Sozialhilfeempfänger? Ein Blick in den Wiener Sozialbericht 2015 lässt zwei Gründe erkennen. Zum einen gibt es tatsächlich viele Menschen, die weniger als das sogenannte Existenzminimum verdienen. Teilzeitbeschäftigte Alleinerzieherinnen etwa. Ihnen wird die Differenz zwischen Einkommen und Mindestsicherung ergänzt. Die sogenannten Aufstocker machen knapp zwei Drittel der Sozialhilfeempfänger aus. Sie sind es auch, die am schnellsten wieder aus eigener Kraft auf die Beine kommen.

Viel schwieriger wird die Lage schon bei jenen, die keiner Beschäftigung nachgehen und ausschließlich von der Mindestsicherung leben. Ihre Zahl steigt in Wien pro Jahr um mehr als zehn Prozent. Man kann es verfestigte Armut nennen. Oder auch soziale Zeitbombe. So bezogen 2013 etwa 18.000 15- bis 25-Jährige in Wien Mindestsicherung. Fast die Hälfte davon schafft von der Schulbank nahtlos den Übergang ins soziale Versorgungssystem. Ohne auch nur einmal beim Arbeitsmarktservice anzuklopfen. Das Problem ist den Experten und Politikern bekannt. Auch dass die „Kooperation zwischen AMS und Stadt verbessert werden“ kann, ist laut Sozialbericht kein Geheimnis.

Denn in der Praxis kommt es nicht selten vor, dass Sanktionen des AMS aufgrund mangelnder Kommunikation von der Stadt Wien torpediert werden. Wenn etwa einem Arbeitslosen aufgrund mehrmaliger Verfehlungen ein Teil seines Arbeitslosengeldes gesperrt wird, holt er sich einen Teil des Geldes einfach in Form der Mindestsicherung beim Magistrat zurück.

Die Kunden der Fonds Soziales Wien werden von Jahr zu Jahr jünger. War der durchschnittliche Sozialhilfeempfänger im Jahr 2001 noch 35,4Jahre alt, so lag das Durchschnittsalter 2013 bei 30,7 Jahren. Mittlerweile dürfte die 30er-Grenze unterschritten worden sein. Spätestens mit der Aufnahme kinderreicher Flüchtlingsfamilien wird der Altersschnitt weiter sinken. 2013 waren in Wien etwa 41.800 Kinder unter 15 Jahren in der Mindestsicherung.


Bankgeheimnis für Arme. Wer in Österreich die Mindestsicherung in Anspruch nimmt, muss natürlich seine Vermögenswerte offenlegen. Schließlich müssen etwa Ersparnisse über einem Freibetrag von 4139 Euro aufgebraucht sein, bevor eine Mindestsicherung gewährt wird. Allerdings kann keine Behörde in Österreich überprüfen, ob Spareinlagen vorhanden sind. Im Zuge der jüngsten Steuerreform wurde zwar das im Verfassungsrang befindliche Bankgeheimnis mit den Stimmen der Regierungsparteien SPÖ und ÖVP sowie der Grünen de facto abgeschafft. Allerdings nur für potenzielle Steuerhinterzieher, sprich Unternehmer. Die Steuerbehörden können nachschauen, das Sozialamt hingegen nicht. Während etwa in Deutschland jeder Hartz-IV-Empfänger auf Herz und Nieren auf seine Vermögensverhältnisse abgeklopft wird, können in Österreich die Angaben der Antragsteller in der Praxis nicht kontrolliert werden.


Vergleich Deutschland/Österreich. Apropos Hartz IV: Der sogenannte Regelsatz liegt bei 399 Euro pro Monat. Mit diesem Geld müssen Hartz-IV-Empfänger den laufenden Bedarf für Nahrung, Kleidung, Körperpflege und andere Bedürfnisse des täglichen Lebens decken (nicht Wohn- und Heizkosten). In Wien bekommt ein Ehepaar mit zwei Kindern in der Mindestsicherung 1688,76 Euro pro Monat. Damit beträgt der Jahresbezug allein aus diesem Titel mehr als 20.000 Euro. Nicht enthalten ist dabei der Anspruch auf den Kinderabsetzbetrag, das sind weitere 58,40 Euro pro Kind und Monat. Hinzu kommt die Kinderbeihilfe. Ab 1. Jänner wird sie je nach Alter des Kindes zwischen 111,80 und 162 Euro monatlich betragen.

Bei zwei Kindern im Alter von zehn und zwölf Jahren wird also jährlich Kinderbeihilfe von 4800 Euro überwiesen. Bezieher einer Mindestsicherung können auch den Alleinverdienerabsetzbetrag von 669 Euro in Anspruch nehmen. Am Ende kommt man auf ein jährliches Haushaltseinkommen von fast 26.000 Euro netto. Und da sind soziale Sondermaßnahmen der Stadt Wien wie der Familienzuschuss oder die Energiestützungsaktion nicht inkludiert.

Mag sein, dass dieses Rechenbeispiel die Frage der rätselhaften Zunahme von Sozialhilfeempfängern in Wien nur zum Teil beantwortet. Laut Statistik Austria lag das durchschnittliche Haushaltseinkommen in Österreich 2014 bei 34.638 Euro netto pro Jahr. Etwa 90.000 Familien mit zwei Kindern müssen mit weniger Geld auskommen, 40.000 Familien mit zwei Kindern in Österreich beziehen weniger als 21.147 Euro netto pro Jahr – trotz Arbeitseinkommen.

Fakten

Mindestsicherung. Die Zahl der Bezieher der Mindestsicherung (früher Sozialhilfe) stieg in Wien von 2010 bis 2013 von 106.000 auf mehr als 150.000 Menschen.

Immer jünger. Das Durchschnittsalter eines Sozialhilfeempfängers lag im Jahr 2001 bei 35,4 Jahren, 2013 lag es bereits bei 30,7Jahren.

26.000 Euro nettobeträgt das jährliche Haushaltseinkommen einer vierköpfigen Wiener Familie (Kinder im Alter von zehn und zwölf Jahren) in der Mindestsicherung. Laut Statistik Austria liegt das durchschnittliche Haushaltseinkommen in Österreich bei jährlich 34.638 Euro netto.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.10.2015)

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