Zwischen Lifestyle und Adrenalinkick

Am Skitourengeher, dem früheren exotischen Hardliner unter den Alpinsportlern, kommt der Wintertourismus nicht mehr vorbei. Die Beliebtheit des Sports ist ungebrochen – so auch die Bemühungen, dessen Gefahr bewusst zu machen.

Postkartenbilder von Pulverschnee, auf dem die Wintersonne funkelt. Darin eine kleine Gruppe Alpinisten, die ihre einsame Spur zum Gipfel zieht und anschließend durch das jungfräuliche Weiß hinunterwedelt. Solche Aussichten locken immer mehr Sportbegeisterte in das alpine Hinterland – dem Backcountry, wie es Eingeschworene nennen. Der Skitourengeher, Feindbild der Liftbetreiber und Liebling der Sportausstatter und Touristiker, hat im vergangenen Jahrzehnt einen fixen Platz unter Österreichs Wintersportlern eingenommen. Mehr als 600.000 österreichische Haushalte besitzen bereits eine komplette Tourenausrüstung, rechnet Franz Theurl, Osttirols Tourismuschef, vor. 180 Millionen Euro – 25 Prozent des weltweiten Umsatzes – würden in der Branche allein zwischen Wien und Bregenz erwirtschaftet.

Die laut Theurl „zwei- bis dreistelligen Quantensprünge“ der Verkaufszahlen, 2015 wurden bisher mehr als 58.000 Paar verkauft, heben sich deutlich von der Alpinskinachfrage ab. Diese stagniert seit geraumer Zeit laut WKÖ-Daten bei rund 350.000 Paar im Jahr. Sein Resümee: „Da musst reagieren, wenn du das in einem Gebiet wie Osttirol verschläfst, bist am falschen Platz.“ Theurl hat reagiert und veranstaltet im Dezember das dritte Austria-Skitourenfestival in Osttirols Hauptstadt, Lienz.

Man setzt auf die Themen Entschleunigung und Sicherheit, vor allem Neueinsteigern soll die Ehrfurcht vor Schneebrettern und Lawinen mitgegeben werden. Mit dem Festival will man sich für die noch kommenden Boomjahre in diesem Tourismussektor die Pole-Position in Österreich sichern. Die angesprochene Zielgruppe bringt zudem den lukrativen Nebeneffekt mit sich, die klassische Randsaison zu favorisieren: Die stärksten Tourengehermonate sind von Februar bis April, wenn die Alpinskifahrer langsam wieder ihre Ausrüstung einmotten.

Eingekesselt von 266 Dreitausendern, mit den wenigsten Liftkilometern Österreichs und unberührter Natur im Ausmaß des Ballungsraums Londons bringt Osttirol nicht die schlechtesten Voraussetzungen für Theurls Pläne mit. „Vermeintlich Versäumtes ausnützen“, nennt er das. Doch der Tourismusexperte weiß: Seiner umhegten Spezies des Skitourengehers ist die unberührte Naturkulisse allein nicht genug. „Er ist ein Gast, der bereit ist, viel Geld auszugeben, und einen hohen akademischen Grad hat.“ Ein Gast also, der nach der Tour einen Wellnessbereich und eine gute Flasche Wein schätzt.

Im exklusiv-abgeschiedenen Villgratental steigen auch gern einmal Größen wie der Google-Chef von Europa ab. Auch darauf stellt man sich in Osttirol ein. In den vergangenen fünf Jahren trimmten sich immer mehr Betriebe auf exklusiven Luxus hin, viele kleine Pensionen schlossen hingegen. So fiel zwar die Gesamtzahl der Betten, die Wertschöpfung stieg dennoch um ein Viertel, berichtet Theurl.


Der Auftritt zählt. Neben dem von Osttirols Tourismuschef beobachteten Hang zum Komfort zeichnet den Tourengeher eine zweite Besonderheit aus: Er ist Teil einer winterlichen Lifestyle-Bewegung, die auch gern unten im Tal angekommen zur Schau getragen wird. „Mit der Softshelljacke kann ich auch ins Büro gehen“, drückt es Michael Larcher, Chef der Bergsportabteilung im Österreichischen Alpenverein aus. „Damit zeig ich, ich bin jung, dynamisch, abenteuerlich und abseits von Norm und Technik daheim.“ Obwohl natürlich eine hoch technische, teure Ausrüstung dahinter stehe, merkt er an. 3000 Euro könne man leicht für Felle, Bindungen, Tourenrucksack und Co. ausgeben.

Das Potenzial dieser Käufergruppe, die laut einer Studie der Österreich Werbung aus dem Jahr 2014 zu 44 Prozent aus Akademikern besteht und ein durchschnittliches Pro-Kopf-Nettoeinkommen von 2050 Euro vorweist, wurde mittlerweile von Sporthandel und Gastronomie entdeckt. Und auch die Liftbetreiber schließen, teilweise unter sanftem Druck vonseiten der Politik wie in Tirol oder nach Mediationsbemühungen des Alpenvereins, immer mehr ihren Frieden mit den Gestalten am Rand ihrer Pisten. Bergsportexperte Larcher: „Die heiße Phase ist vorbei.“

Was aber im Tiroler Raum nach wie vor natürlich für Unmut sorge, seien Tourengeher, die nach ihrem Büroschluss den Berg besteigen und im Dunkeln die bereits für die zahlenden Gäste des kommenden Tags präparierten Pisten zerfurchen. Dem kommt man im Tiroler Raum nun mit einem Karussellsystem entgegen, bei dem jeden Abend eine andere Piste für die Tourengeher geöffnet hält. Aus Sicht des Alpenvereins dürften die Liftbetreiber keine Pistenmaut verlangen, wie sie mancherorts eingehoben wird, da auf die Piste als Naturfläche ein allgemeiner Anspruch bestünde – temporäre Widmung als Betriebsfläche für den Liftbetreiber hin oder her. Im Fachverband der Seilbahnen in der Wirtschaftskammer sieht man die Sache naturgemäß anders: Ein freies Recht zur Begehung von Pisten bestehe nicht. Man betont aber den gastfreundlichen Umgang vieler Seilbahnunternehmen, die Aufstiegsspuren oder Abendabfahrten anbieten.

Auch im Handel weht ein rauerer Wind, seit der Nachfrageboom beständig neue Mitbewerber anlockt. „Der Markt ist in den vergangenen Jahren brutal geworden“, sagt Thomas Zimmermann. Er betreibt sein Alpinausstattungsgeschäft in der Lienzer Innenstadt seit 2002. Deutlich länger – seit einem Vierteljahrhundert – geht er selbst Skitouren und würde sich nie als „typischen Sportverkäufer“ bezeichnen. Seinem Empfinden nach ist der Höhepunkt des Booms überschritten: „Ein richtiger Modetrend war es von 2006 bis 2008, da hat jeder angefangen, Skitouren zu gehen.“ Dennoch stiegen bei ihm die Verkaufszahlen nach wie vor. Was sich aber seit 2002 drastisch änderte: Als er eröffnete, habe es drei Schuhe gegeben, die man im Sortiment haben musste. Heute seien es 20. Die Branche spüre auch den Einstieg großer Player wie Head, Atomic oder Fischer mit ihren Großhandelsrabatten.

Zimmermann, der freiwillig bei der örtlichen Bergrettung arbeitet und in seinem Geschäft seit 2002 auch Lawinenseminare anbietet, weiß von den Gefahren des Sports. Für die Beratung nimmt er sich oft eine Stunde Zeit, um vor der Tür die gesamte Ausrüstung zu erklären. Da kämen Leute mit einem bereits gekauften LVS-Gerät (Lawinenverschüttetensuchgerät), die ihn fragten, wie man es einschaltet. Oder solche, denen er erklären muss, dass die Patrone ihres Lawinenairbags längst undicht und dieser damit nicht funktionsfähig ist. Auch würde oft am falschen Platz gespart: „Viele kaufen sich zwar die teuerste Ausrüstung, aber für ein Wochenende mit einem Bergführer geben sie dann kein Geld aus.“

Michael Larcher vom Österreichischen Alpenverein kommt zu einem ähnlichen Schluss: „Mit solchen Trends ist immer verbunden, dass Menschen ohne Know-how unterwegs sind.“ Erfreulich sei jedoch, dass der verstärkte Zulauf zur Skitouren- und Freerider-Bewegung (Skifahrer abseits markierter Pisten, die aber die Liftanlagen verwenden) die Zahl der Alpintodesfälle im Langzeitvergleich nicht nach oben schnellen ließ.


Früh übt sich der Lawinenkenner. Dazu tragen auch die Kursangebote des Österreichischen Alpenvereins bei. An bundesweit mehr als 200 Standorten bietet der Verein rund 1100 geführte Touren an. Bei jeweils acht bis 16 Teilnehmern pro Bergführer und Tour erreicht man pro Saison so eine beträchtliche Zahl Interessierter. Hinzu kommen die vielen Privatinitiativen wie jene von Thomas Zimmermann.

Sein Heimatbezirk Lienz war es auch, der vor sechs Jahren mit einem absoluten Unikum startete. Dort beginnt die Lawinenwarnkunde bereits im Schulalter. An die 650 Osttiroler Jugendliche werden jährlich hinsichtlich der Gefahren abseits der präparierten Pisten eingeschult. Das Projekt E3 ist eine Gemeinschaftsaktion von Alpinpolizei, Alpinkompetenzzentrum Osttirol und der örtlichen Bergrettung. Deren Chef, Pete Ladstätter, betont die Notwendigkeit der Aktion, die mittlerweile auch in Kärnten und Salzburg aufgegriffen wurde: „Seitdem wir es in den Schulen machen, gab es im Bezirk keine Unfälle mit Jugendlichen mehr.“ Dabei koste das Projekt jährlich mit 10.000 Euro nicht einmal so viel wie ein einziger Lawineneinsatz mit Hubschrauber.

Auch Ladstätter prophezeit dem Skitourentrend einen ungebrochenen Boom. Dieses Streben nach der Natur sei „unglaublich zu begrüßen“. Doch: „Wichtig ist der Verzicht.“ Der Mensch ticke nun einmal so, dass er immer höher hinauswolle, so der Bergretter. Gar nicht osttirolerisch, vielmehr buddhistisch fügt er hinzu: „Das Ziel darf nicht der Gipfel sein, sondern, sicher nach Hause zu kommen.“

Lawinenkunde

Österreichischer Alpenverein. Die Organisation bietet mit ihren 200 Sektionen österreichweit pro Saison rund 1100 geführte Skitouren und mehr als 1000 Veranstaltungen zum Thema Lawinenkunde an.

E3-Schulprojekt. Im Osttiroler Bezirk Lienz starteten drei alpine Rettungsdienste vor sechs Jahren eine Aktion, die Jugendliche auf die Gefahren abseits der Piste aufmerksam machen soll. Kärnten und Salzburg sind bereits nachgezogen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.11.2015)

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