Die Zukunft ist nicht mehr, was sie einmal war

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Ein Bestseller des US-Forschers Robert Gordon wirft ein neues Licht auf die weltweite Wachstumsschwäche der Wirtschaft: Das Goldene Zeitalter des technischen Fortschritts sei lang vorbei – und komme so bald auch nicht wieder.

So schön haben wir uns das alles vorgestellt: Automobile segeln als gläserne Kapseln durch die Lüfte. Unter der Erde rasen Züge wie Raketen. Weltraumsiedlungen und Solarkraftwerke umkreisen unseren Planeten. Wir kolonisieren Mond und Mars, reisen in Zeitmaschinen und beamen uns an ferne Orte. Das verhießen Bildbände und Filme in den 1950er- und 60er-Jahren. Die Wirtschaftswunderzeit war auch die Ära der optimistischen Utopien. Doch dieser hoffnungsvolle Blick auf die Zukunft ist uns abhandengekommen. Die Sehnsucht ist der Angst gewichen. Was hat uns so zaghaft gemacht? Finanzkrise, Klimawandel oder Flüchtlingsströme? Oder einfach die Enttäuschung darüber, dass nicht alle Blütenträume reiften?

Tatsächlich schrieb die Nachkriegsgeneration in ihren Visionen nicht nur ein himmelstürmendes Gefühl fort, sondern ihren realen Entwicklungspfad. Das Jahrhundert von 1870 bis 1970 hat die Menschheit technologisch viel schneller und weiter vorangebracht als jede Epoche davor – und danach? Fest steht: Es geht seither, trotz Internets, bei Weitem nicht in diesem Tempo weiter. In den Worten des legendären Investors Peter Thiel: „Wir wollten fliegende Autos. Stattdessen haben wir 140 Zeichen bekommen“ – die Textlänge einer Twitter-Nachricht.

Diese Intuition wird nun wissenschaftlich geadelt, durch das Buch „The Rise and Fall of American Growth“ von Robert Gordon. Der US-Ökonom verteidigt seine Ideen mit anschaulichen Schilderungen und einer Fülle von Daten. Was er für Amerika nachzeichnet, ist auf Europa übertragbar. Seine These im Kern: Die Errungenschaften, die unser Leben von Grund auf verändert und ein historisch einmaliges Wirtschaftswachstum entfesselt haben, liegen schon länger zurück. Das sei der wahre Grund für die „säkulare Stagnation“ – die sich weltweit und anscheinend dauerhaft abflachenden Wachstumsraten.

Gordons Ode auf das „Goldene Zeitalter des Wachstums“ wird plausibel, wenn man sich die Lebensbedingungen von Bauern im 19. Jahrhundert vor Augen führt: Sie mussten Wasser am Brunnen schöpfen, Holz für den Ofen sammeln, selbst grobe Kittel nähen. Nur so weit kamen sie, wie ein Pferd sie trug. Eines von vier Kindern starb, wer die Hürde nahm, wurde mit viel Glück 50 Jahre alt. Bis sich alles wandelte: Eisenbahn und Telefon ließen die Distanzen schrumpfen. Elektrizität machte die Nacht zum Tage, der Kühlschrank die Lebensmittel haltbar. Waschmaschine und Staubsauger befreiten die Frauen vom sklavischen Joch der häuslichen Arbeit. Es folgten: Autos, Flugreisen, Fernseher.

Medizinische Durchbrüche dehnten die Lebensspanne um Jahrzehnte aus. Die Menschen nutzen die Frist, um das Geld für all die neuen Annehmlichkeiten zu verdienen. Das ließ die Wachstumskurve in die Höhe schießen. Vom Fall Roms bis zum Mittelalter blieb das Ausmaß der wirtschaftlichen Aktivität unverändert. Über weitere vier Jahrhunderte verteilt, von 1300 bis 1700, verdoppelte sie sich in England. Wie in einem seligen Rausch erlebten die Amerikaner eine solche Verdoppelung nun in jeder Generation.

Das Internet als Strohfeuer

Aber schon um 1950 war ein mittlerer Haushalt nicht wesentlich anders bestückt als heute (in Europa durch den kriegsbedingten Rückfall später). Gewiss: Fernseher wurden flacher, Computerchips kleiner. Das Telefon kann man sich heute in die Tasche stecken. Und ja, natürlich, das Internet. Aber auf was würden Sie eher verzichten: Smartphone oder Wasserklosett? Zwar legt der technische Weltgeist beim Rechnen und Speichern von Daten ein atemberaubendes Tempo hin. Aber, wie Gordon betont: „Es ist wichtig, zwischen der Geschwindigkeit der Innovation und ihrer Auswirkung zu unterscheiden“.

Dahinter steckt mehr als die Gemütslage eines Skeptikers. Wie Innovation die wirtschaftliche Dynamik beeinflusst, lässt sich messen, über den Anstieg der „Totalen Faktorproduktivität“. Dabei isolieren Ökonomen, was sonst noch Wachstum treibt: mehr Kapital (also Maschinen) und mehr Menschen (also Arbeit). Wenn für eine Kapital- und Arbeitseinheit der Output immer noch wächst, muss dies andere Gründe haben. Etwas geht leichter, schneller, besser. Dieses Etwas nennen wir Innovation. Die Produktivität durch Fortschritt stieg von 1920 bis 1970 um 1,9 Prozent jährlich, von 1970 bis 1994 nur noch um 0,6 Prozent. Was dann geschah, vernebelt laut Gordon unsere Sicht: Es vermählten sich die Effekte von Personal Computer, Bürosoftware und Internet. Der Dotcom-Boom sorgte noch einmal für einen Anstieg. Aber wir überschätzen sein Ausmaß, weil soziale Netzwerke unseren Alltag revolutionieren. Der Internet-Schub fürs Wachstum war nicht sehr groß. Und er erwies sich als Strohfeuer: Ab 2005 fiel die Kennzahl wieder zurück – bis heute.

Doch warum sollte es dabei bleiben? Allerorten raunen IT-Experten über den Vormarsch von Robotern und vernetzten Geräten. Technikoptimisten unter den Ökonomen wie Andrew McAfee liefern auch dafür akademisches Rüstzeug. Hier liegt die Achillesferse von Gordons Theorie. Auch er kann nicht in die Zukunft blicken. Aber er schaut zurück und zuckt mit den Schultern: Roboter hat man uns schon vor langer Zeit versprochen. Der Ersatz von Menschen durch Maschinen läuft seit zwei Jahrhunderten. Immer fanden sich genügend neue Arbeitsplätze für die entfallenden alten. Dass künstliche Intelligenz schon bald massenhaft Jobs killt, dafür sieht Gordon zumindest aktuell keine Anzeichen: In den USA stehen die Zeichen in Richtung Vollbeschäftigung.

Aber es ist das Wesen des „disruptiven Wandels“, dass er anfangs alle überrascht. Und so mag Gordon einst retrospektiv Gelächter ernten – wie jener legendäre Leiter des US-Patentamtes, der für seine Behörde schon 1899 keine Zukunft mehr sah: „Es gibt nichts Neues mehr. Alles, was man erfinden kann, wurde schon erfunden.“

Robert Gordon, „The Rise and Fall of American Growth: The U.S. Standard of Living since the Civil War“, Princeton University Press, 750 Seiten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.03.2016)

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