Die Armut ist in Österreich auf dem Rückzug

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Die Zahl der Armutsgefährdeten ist in Österreich seit 2008 deutlich gesunken. Das dürfte vor allem an der Umverteilung liegen. Die EU als Ganzes droht ihr Ziel zu verfehlen.

Es ist eine gute Nachricht: Die Armut in Österreich geht zurück – und das nicht nur im vergangenen Jahr, für das nun die Daten der Statistik Austria vorliegen, sondern auch im Trend seit 2008. Damals hat sich die Europäische Union ein hehres Ziel gesetzt: Die Zahl der Menschen, die in Europa von „Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht“ sind, soll bis zum Jahr 2020 deutlich zurückgehen, von 120 auf 100 Millionen. Für jedes Mitgliedsland wurde die Vorgabe heruntergebrochen. Österreich hält seinen Pfad ziemlich genau ein und dürfte das Ziel erreichen – ganz anders Europa im Ganzen.

Wie ist es zu dem Rückgang gekommen? Um die Zahlen interpretieren zu können, muss man sich die kunstvoll zusammengesetzte EU-Kennzahl genauer anschauen. Die größte Gruppe, die dabei einfließt, sind die im eigentlichen Sinn Armutsgefährdeten. Betroffen sind hier Haushalte, deren verfügbares Einkommen weniger als 60 Prozent des Medianwertes ausmacht (bei dieser Art von Durchschnitt hat genau die Hälfte aller Haushalte ein niedrigeres, die andere Hälfte ein höheres Einkommen). Für einen Single liegt die Schwelle bei 1163 Euro pro Monat (nach Sozialtransfers); bei Paaren und Familien mit Kindern wird mit Faktoren hochgerechnet. 2008 waren hierzulande noch 15,2 Prozent aller Haushalte armutsgefährdet, heute sind es 13,9 Prozent.

Es geht dabei um eine relative Armut, gemessen an dem üblichen Lebensstandard in einer Volkswirtschaft. Mit steigendem allgemeinem Wohlstand verschiebt sich die Schwelle nach oben. Unter ihr zu liegen, bedeutet also vor allem: den Anschluss zu verlieren, am Rand der Gesellschaft zu leben, nicht teilhaben zu können an den Möglichkeiten, die sich der Mehrheit bieten. Näher an der absoluten Armut, an die man intuitiv wohl eher denkt, liegt die „erhebliche materielle Deprivation“. Unter ihr leiden Menschen, die sich konkrete Dinge nicht leisten können: jeden zweiten Tag Fisch, Fleisch oder Tofu essen, die Wohnung schön warm halten, Auto und Waschmaschine besitzen. Nach zehn solchen Dingen fragen die Statistiker. Wer auf vier oder mehr von ihnen verzichten muss, gilt als depriviert. Der Anteil dieser Menschen liegt hierzulande mit 3,6 Prozent viel niedriger als jener der Armutsgefährdeten. Er ist aber auch viel deutlicher gesunken: Seit 2008 ging er um fast 40 Prozent zurück.

Lehre halbiert Armutsrisiko

Wie konnte das gelingen, bei zugleich steigender Arbeitslosigkeit? Sie spiegelt sich in der dritten Gruppe: den Haushalten mit „keiner oder sehr niedriger Erwerbsintensität“. Das heißt: Der Haushalt schöpft sein Erwerbspotenzial zu weniger als einem Fünftel aus (ganz ausgeschöpft hieße: Alle, die zwischen 18 und 59 Jahre alt sind und nicht studieren, sind ganzjährig Vollzeit beschäftigt). Nur diese Gruppe wird größer, ihr Anteil stieg seit 2008 von 7,4 auf 8,2 Prozent. Dass Armut und Entbehrung dennoch auf dem Rückzug sind, dürfte also an der Umverteilung im Sozialstaat liegen. Sie funktioniert offenbar nicht schlechter als früher, sondern besser. Freilich kommt dieser Ausgleich die Volkswirtschaft immer teurer zu stehen, wenn das Wachstum schwach ist und die Arbeitslosigkeit steigt.

Die Grafik zeigt, wie die Gruppen sich überschneiden. Was überraschen mag: Man kann auch bei gutem Einkommen unter Entbehrung leiden – etwa durch hohe Ausgaben wegen einer Scheidung.

Vereinigt man die drei Gruppen zu einer, kommt man auf 18,3 Prozent der Bevölkerung. Das höchste Armutsrisiko haben Migranten von außerhalb Europas. Unter ihnen liegt die Quote bei 46 Prozent. Bei Zuwanderern aus EU-Staaten ist sie mit 40 Prozent auch nicht viel niedriger. Auffallend ist die sehr starke Rolle der Bildung: Unter Pflichtschulabgängern liegt die Quote bei 28 Prozent, schon bei einer abgeschlossenen Lehre ist sie mit 14 Prozent halbiert. Studieren drückt das Risiko nur noch wenig weiter, auf zwölf Prozent. Übrigens: Die Gefahr, dass Kinder aus gefährdeten Haushalten den Anschluss an die Digitalisierung versäumen, scheint nicht sehr groß zu sein: Selbst unter ihnen haben 95 Prozent zu Hause einen Computer.

In ganz Europa lag die summierte Armutsquote 2014 (Vorjahreszahlen kommen erst im Herbst) mit 24,5 Prozent deutlich höher. Seit 2008 ist dieser Wert sogar gestiegen. Leicht zeitversetzt trieb die stark wachsende Arbeitslosigkeit in den Euro-Krisenstaaten zwischen 2010 und 2012 auch die Armut in die Höhe. Seitdem geht sie zwar zurück, aber nur langsam und leicht.

DIE EU-STATISTIK

EU-SILC ist eine Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen in der Europäischen Union. Seit 2003 sammelt sie dazu jährlich Informationen. In Österreich die Statistik Austria das Projekt um, durch eine Befragung von 6000 Haushalten. EU-Ziel ist, die Gesamtzahl der Armutsgefährdeten, Erwerbslosen oder unter Entbehrung Leidenden stark zu senken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.04.2016)

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