"Es kommt auf die Funktion an"

A racegoer arrives for the first day of racing at the Royal Ascot meeting
A racegoer arrives for the first day of racing at the Royal Ascot meetingREUTERS
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Der Familienbetrieb Nagy Hüte verkauft seit fast 100 Jahren Hüte. Porträt einer Branche, die stark vom Wetter abhängig ist und die mit Wien trotzdem Glück hat.

Die Straße hat sich verändert, das Aussehen der Kunden ebenso. Die langen Röcke der Frauen wurden über die Jahrzehnte kürzer, die Haare auch, die Männer, die früher noch täglich Anzug, feste Schuhe und Hut trugen, latschen jetzt mit Jeans, Sneakers und Baseballkappe durch die Stadt. Auch eine neue Kopfbedeckung hat im Grätzel Einzug gehalten. Das Kopftuch der muslimischen Frauen, die im 16. Bezirk oft zu finden sind. Nur das Geschäft in der Thaliastraße 36, Ecke Kirchstetterngasse, ist seit fast 100 Jahren gleich. Hier hat die Firma Nagy Hüte ihren Stammsitz.

„Früher haben ja weder Frauen noch Männer ohne Kopfbedeckung das Haus verlassen“, erzählt Leopold Nagy, der denselben Namen trägt wie sein Vater und sein Großvater und ihn auch seinem Sohn gegeben hat, während er durch das Geschäft führt. Hier reiht sich freilich Hut an Hut. Von den modischen Trilby-Hüten, wie sie Frank Sinatra trug, über Sommer-Strohhüte und traditionelle Jagd- und Trachtenhüte bis hin zu den Fascinators. Jenen Gebilden aus Federn und Schleifen, die die englische Schickeria bevorzugt bei noblen Anlässen vorführt.

300 Kunden an einem Tag. Die goldenen Hutzeiten sind freilich längst vorbei. In den Fünfzigern seien vor Weihnachten noch 300 Kunden im Geschäft gestanden – an einem einzigen Tag, erzählt der heute 61-Jährige. Ein Bombengeschäft. Sein Sohn, Leopold junior, 35 Jahre alt, der die Firma später weiterführen wird, erzählt eine Anekdote, wie sein Urgroßvater, der das Geschäft 1924 gegründet hat, und sein Großvater die Kunden noch Hüte in Raten abzahlen ließen. „Ein paar Häuser weiter war die Auszahlungsstelle für Arbeitslose.“ Da sei die Schlange teilweise bis zum Gürtel gestanden. Sein Großvater hätte den Arbeitslosen die Hüte nur mit einer Anzahlung überlassen, und jeden Monat hätten diese nach dem Amtsbesuch ein Stück mehr abbezahlt. „Geld hatten die Leute keines, aber einen Hut wollten sie sich leisten“, ergänzt sein Vater. Korrekt spricht man den Namen übrigens „Nagi“ aus. „In Ungarn sagt man anders, aber wir nennen uns Nagi“, sagt er.

Eine Zeit, in der alle Wiener Hüte trugen, wird wohl nie wieder kommen. Genau deswegen konzentriert man sich bei Nagys auf die Zukunft. Über die Jahre hat das Geschäft sein Sortiment ergänzt und erweitert. So gibt es mittlerweile im Hutfachgeschäft auch Handschuhe, Stirnbänder, Regenjacken und – bei Touristen ein Renner – Klimtregenschirme. Das Kerngeschäft und Know-how bleibt freilich bei den Hüten, Hauben und Kappen, über die Nagy viel erzählen kann, auch weil der Hut schon längst mehr als eine hübsche Kopfbedeckung ist. „Es kommt auf die Funktion und Zweckmäßigkeit an.“ Der Hutkäufer von heute, der will nicht nur gut aussehen, sondern auch gut ausgerüstet sein. Daher haben die typischen Panama-Sommerhüte einen Sonnenschutz von hohem Lichtschutzfaktor (etwa 40 bis 60) – so dass sich niemand mehr einen Sonnenbrand holen kann. Was früher trotz Hut möglich war. Auch regenfeste Hüte wollen die Kunden. Heutzutage seien außerdem so gut wie alle Hüte knautschbar. Er nimmt einen Hut aus dem Regal und rollt ihn zusammen. So werden die Hüte in den Koffer gepackt. Vor ihm steht der Ständer mit den Modehüten. Frank Sinatras Trilby wird seit zwei Jahren nachgefragt, ebenso die Herren-Stetson-Mützen für den Sommer. Der Hut, auch wenn er nicht mehr zur Pflichtgarderobe gehört, erlebte schon schlechtere Zeiten. Das findet auch Nagy. „Der Hut ist wieder im Kommen“, sagt er. Und freut sich über jeden Promi, der mit gutem Beispiel vorangeht. Es brauche nämlich Trendsetter. Unvergessen der Hut mit den schwarz-weißen Bändern, für den Kojak bekannt gewesen sei. Da seien alle ins Geschäft gekommen, weil sie aussehen wollten wie er. Was freilich nur bedingt funktioniert habe. „Schatzi, wie lange ist das her“, fällt ihm seine Frau Elisabeth ins Wort. Heutzutage kontrolliere das Wetter das Kaufverhalten der Kunden. Regnet es, verkaufen sich mehr Regenhüte, gibt es eine Hitzewelle, verkaufen sich die Sonnenhüte. „Für uns sind am besten kalte Winter und heiße Sommer“, erklärt Elisabeth Nagy. Die vier letzten (eher warmen) Winter, seien schlecht fürs Geschäft gewesen.

Wissen, was die Kunden wollen. Im hinteren Geschäft hat ein polnischer Verkäufer derweil seine Pelz- und Winterhauben aufgelegt. Mit sicherem Griff sieht sich Elisabeth Nagy die Hüte an – nun liegt es an ihr zu entscheiden, was sie verkaufen kann und was nicht. „Das mache ich aus dem Bauch heraus“, erklärt sie. 40 Jahre Erfahrung, da wisse man genau, was die Kunden mögen.

Die großen Pelzmützen etwa, die gehen schon längst nicht mehr, seit die reichen Russen nicht mehr nach Wien kommen. Auch wo die Ware produziert wird, ist entscheidend – und aus welchem Material sie ist. Kommt ein Hut etwa aus China, wollen ihn viele nicht. Aus Angst vor Kinderarbeit. Meistens kaufen die Nagys daher in Deutschland und Italien ein.

Die Touristen sind gerade in den Filialen der Innenstadt wichtig, sie kosten aber auch Nerven. „Just browsing“ („Ich schau nur“, Anm.). Leopold Nagy kann den Satz schon nicht mehr hören. Auch weil die Kunden so nicht sehen, was ein Hutexperte für sie leisten kann: die richtige Größe finden oder den Hut bei Bedarf enger nähen. Auch das Farbband des Hutes kann geändert werden. Es sind Dinge, die ein junger Mensch meistens gar nicht mehr einzufordern lernt. Dabei sei das Klientel schon längst vom Alter her gut durchgemischt. Aber prinzipiell, wirft seine Frau ein, sei Wien noch immer eine gute Stadt für Hüte. Wie auch eine aktuelle Ausstellung des Wien Museums (siehe Infokasten) zeigt. In Wien werden mehr Hüte getragen als in manch anderen Ländern Europas: „Die Vertreter aus Deutschland und Italien freuen sich immer, weil sie bei uns noch so viel verkaufen können.“

Fakten

Nagy Hüte wurde 1924 von Leopold und Josefine Nagy in Ottakring gegründet. Zu Spitzenzeiten war die Firma sieben Filialen groß. Mittlerweile gibt es in Wien noch drei Filialen. Der Firmensitz ist in der Thaliastraße 36. www.nagy-hut.at

Chapeau! „Eine Sozialgeschichte des bedeckten Kopfes“, lautet eine aktuelle Ausstellung im Wien-Museum. 9. Juni 2016 bis 30. Oktober 2016.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2016)

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