Kinderträume aus dem Biedermeier

Manfred Reichel umgeben von seinen antiken Puppen. Stoffbären mochte er früher hingegen nicht. Jetzt ist er Meister darin, sie zu reparieren.
Manfred Reichel umgeben von seinen antiken Puppen. Stoffbären mochte er früher hingegen nicht. Jetzt ist er Meister darin, sie zu reparieren. Valerie Voithofer
  • Drucken

In Manfred Reichels Puppenklinik auf der Wieden erhalten die betagten Patienten aus Porzellan und Stoff einen neuen Gummizug oder auch einmal ein frisches Auge.

Auf Bäume klettern hätte er sollen, nicht mit den Puppen der Cousinen spielen. Manfred Reichel, Wiener Puppendoktor auf der Wieden, erinnert sich an seine Kindheit. Damals, in den Sechzigern, hat es seine Familie überaus misstrauisch beäugt, als der Bub die Puppen den Bausteinen oder Autos vorzog. „Ich habe immer alles hingemacht als Kind“, erzählt Reichel. Schließlich müsse man etwas zerstören, um zu begreifen, wie es in seinem Inneren aussieht, wie es funktioniert. Da wurde auch vor Puppen nicht haltgemacht.

Heute ist Reichel derjenige, der die Porzellankörper wieder zusammenflickt. Sei es, dass den betagten Damen ein Gummi gerissen, ein Auge ausgefallen oder ein Bein abgebrochen ist. „Ich habe eine Patientin für Sie“, sagt die alte, weißhaarige Dame, die soeben sein Geschäft betritt. Lali heiße die Patientin, sei 55 Jahre alt und müsste nun fürs Enkerl wieder fit gemacht werden. Als Patientinnen, nicht als Werkstücke werden die Neuankömmlinge bei Reichel behandelt. Der 52-Jährige befühlt ganz wie ein echter Doktor geschwind den Porzellankörper, bewegt Lalis Gliedmaßen und wägt das Ausmaß des Schadens ab. „Das ist nicht schlimm. Am Mittwoch können Sie sie wieder haben.“

Seit 20 Jahren arbeitet Reichel in seinem kleinen Geschäft in der Heumühlgasse nahe dem Wiener Naschmarkt. So man sich schon einmal im Leben die Frage gestellt haben sollte, wie die typische Puppenklinik wohl aussieht, findet man die Antwort in dem kleinen, vollgestellten Laden. Alte weinrote Tapeten. Gläserne Luster. Holzvitrinen, von denen Heerscharen an antiken Puppen, Bären und sonstigem Spielzeug auf den Besucher herabblicken. Ob ihn die vielen maskenhaften Blicke der starren Porzellangesichtchen nicht manchmal ängstigen? „Schauen Sie sich die alten Fotografien an“, sagt Reichel nur. „Die Leute darauf schauen genauso starr in die Kamera. Da ist viel Kulturgeist darin.“

Man merkt, der Mann ist dem Biedermeier und der vorvergangenen Jahrhundertwende verbunden. Ab etwa 1870, erzählt er, wurden in deutschen Städten wie dem für seine Spielzeugindustrie berühmten Sonneberg die ersten modernen Puppen gefertigt. „Das Biedermeier hat uns die Schule – und auch die Kindheit – beschert“, sagt Reichel.


Auf Film gebannt.
Über seinem Geschäft liegen diese vergangenen Tage wie ein feiner, nostalgischer Mantel. Der Raum macht den Eindruck eines etwas unordentlichen Kinderzimmers aus Biedermeiertagen. Das dachten sich wohl auch die Produzenten von „Herrn Kukas Empfehlungen“. Die Verfilmung von Radek Knapps Bestseller über einen Polen, der in Schelmenroman-Manier durch Wien stolpert, wurde zu einem großen Teil in Reichels Reich gedreht.

Nach dem Dreh behielt er die weinroten Tapeten, die das Filmteam anbrachte. „Alles Fake“, wie er lachend anmerkt. Auch eine gewisse Lokalberühmtheit blieb haften. Die kleine Anekdote liegt jetzt bald zehn Jahre zurück. „Damals hat man mich wirklich gut gekannt.“ Doch durch den Generationenwechsel hätte sich das nach und nach verloren. „In den vergangenen drei Jahren sind 15 meiner Stammkunden gestorben“, spricht Reichel das generelle Problem seines Metiers an. In seinen Laden verirre sich heute so gut wie kein Kunde unter 50 Jahren.

In den Achtzigerjahren habe es eine riesengroße Bewegung hin zum Antiken, Nostalgischen gegeben, auch unter den Jüngeren. Puppenmessen waren gut besucht. Er selbst gab damals für sein erstes Sammlerexemplar 3000 Schilling aus. Heute ist diese rückwärtsgewandte Modebewegung, die sich auch in den Preisanstiegen bei Jugenstil- und Biedermeiermöbeln niederschlug, wieder verebbt. Doch Reichel hofft, dass es hier wie überall sonst verläuft – zyklisch. Alles käme schließlich zurück, sogar die hässlichen Siebzigerjahre, sagt er lachend.

Das Abebben des Trends kam in Reichels Fall auch nicht gänzlich ungelegen. Als er 1996 in der Heumühlgasse aufsperrte, konnte er enorme Privatsammlungen und Bestände anderer Puppenkliniken übernehmen, die das Handtuch warfen. Heute umfasst sein Lager 500 Perücken, mehrheitlich Echthaar, sowie 1000 Glasaugen für Bären und Puppen. Wenn einer der rund 50 Patienten, die er normalerweise parallel betreut, neue Gliedmaßen oder Augen benötigt, braucht Reichel oft nur eine seiner vielen Holzschubladen aufzuziehen.


Not macht Autodidakten.
Die Handgriffe hat er sich selbst beigebracht. Der Autodidakt kommt ursprünglich aus der Inneneinrichtungsbranche. In einem der großen Wiener Möbelhäuser arbeitete er bis zu dessen Ende in den Neunzigern als Dekorateur. Als Schluss war, das Haus von einer großen Möbelkette übernommen wurde, fasste er sich ein Herz und sattelte um auf sein Hobby, die Spielzeugreparatur. Die hatte er in den Achtzigern im ehemaligen Wiener Puppen- und Spielzeugmuseum von Vaclac Sladky erlernt. Oder besser gesagt, dort gerade nicht. „Sladky hatte immer so viel zu tun, dass ich ein halbes Jahr hätte warten müssen, bis er meine Puppe repariert.“ So habe er auf Motivation des Meisters hin selbst angefangen, sie auseinander- und wieder zusammenzubauen. Darin hatte er schließlich seit Kindertagen Erfahrung.

Heute reißt der Kundenstrom bei Reichel nicht ab. Seine Werkstatt ist eine der zwei in Wien verbliebenen, die sich antiker wie neuer Puppen, Teddybären und Blechspielzeuge annehmen. Dem Zulauf tut auch das fortschreitende Alter der Patienten und Besitzer keinen Abbruch. Keine zehn Minuten vergehen, ohne dass im Reich des Puppendoktors jemand von der sonnigen Straße in den leicht schummrigen Verkaufsraum tritt oder das Telefon läutet. Einmal in der Woche ist das Geschäft geschlossen. Dann ist Reichel im Dorotheum anzutreffen, wo er seit sechs Jahren ebenfalls antikes Spielzeug restauriert.

Gefüllte Auftragsbücher verschafft ihm auch die Tatsache, dass er bei der Wahl seiner Patienten nicht mehr ganz so streng vorgeht wie früher. Zu Beginn habe er nichts mit Bären am Hut gehabt, neue Puppen strikt abgelehnt, erzählt er. Mittlerweile ist Reichel Experte für Stoffbären. Und die „Einwegpuppen“ aus China mit ihrem billigen Plastikinnenleben behandelt er auf Nachfrage auch – wenn auch ungern. „Ich muss meine Miete bezahlen“, sagt er fast wie zur Entschuldigung.

Als Ausgleich zur chinesischen Massenware bleibt Reichel immer noch seine Privatsammlung. Wie andere seltene Briefmarken archivieren, nennt er beinahe alle Barbiepuppen aus den Jahren 1959 bis 1974 sein Eigen. Aktuell hält er bei rund 350 Stück. Wenn man sich angesichts dieser Masse erstaunt zeigt, lacht er nur und winkt ab: „Das ist wenig. Da kennen sie die Monstersammlungen wirklich Sammelwütiger nicht.“

Die Klinik


Manfred Reichel betreibt seit 20 Jahren die Puppenklinik in der Heumühlgasse 5 in 1040 Wien.


Das Angebot reicht von der Reparatur antiker Puppen, Bären, Puppenstuben und Plüschtiere über den An- und Verkauf von alten Puppen und Blechautos, Eisenbahnen und Barbiepuppen samt Zubehör.

Kontakt 01/581 67 26

Dienstags geschlossen

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.