Wenn Tiroler an einem Seil ziehen

Ob in Sexten im Südtiroler Hochpustertal oder in Fiss im Tiroler Oberland: Die Abhängigkeit von der Einnahmequelle Tourismus prägt das Miteinander.
Ob in Sexten im Südtiroler Hochpustertal oder in Fiss im Tiroler Oberland: Die Abhängigkeit von der Einnahmequelle Tourismus prägt das Miteinander. (c) REUTERS
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Schicksalsgemeinschaften zwischen Bauern, Hoteliers und Seilbahnern können eng sein, wenn der Tourismus alles ist, was eine entlegene Bergregion vor Arbeitslosigkeit und Abwanderung bewahrt. Ein Besuch in Nord- und Südtirol.

Im Jahr 1965 wurden die Einwohner der armen kleinen Gemeinde Fiss im Tiroler Oberland vor die Wahl gestellt: „Wollt ihr ein Schwimmbad oder eine Seilbahn?“ Es wurde die Seilbahn. Die Entscheidung sollte Menschen wie Landschaft für Jahrzehnte prägen. 1967 ging der Lift in Betrieb. Mit ihm zogen erste Ansätze des Wintertourismus in die knapp tausend Seelen zählende Gemeinde auf dem Gebirgshochplateau ein – vier Jahre vor dem Farbfernsehen.

„Alles, was wir tun, ist für die Gäste, aber in erster Linie auch für uns“, sagt Benny Pregenzer, der Chef der Seilbahngesellschaft Fiss-Ladis. Auf die knapp 1000 Einwohner seines Heimatorts kommen heute 6000 Gästebetten. In Fiss gebe es genau zwei Privathäuser, präzisiert er mit einem gewissen Stolz. Denn ja, in Fiss habe man eines begriffen: Die Einwohner sind nur mit dem touristischen Fortschritt – vom Bau des ersten Skilifts 1967 bis hin zum Zusammenschluss mit der benachbarten Wintersportregion Serfaus 1999 – einverstanden, wenn jeder wirtschaftlich mitnaschen kann.

Daher beeilt sich Pregenzer auch hervorzuheben, dass die über den sommerlich grünen Almhängen baumelnden Bahnen nicht bösen Investoren aus der Ferne, sondern zu 80 Prozent der Gemeinde und zu 20 Prozent vielen Kleinaktionären aus dem Dorf gehören und ihr Gewinn noch nie ausgeschüttet wurde. Man wird sich wohl tatsächlich schwer tun, einen Fisser zu finden, der auf den Jobmotor Tourismus oder die dahinterstehende Seilbahngesellschaft schimpft. Schließlich tritt sie hier als Sponsor der Feuerwehr, der Jungbauern, der Schützen, der Musikkapelle – schlicht des gesamten Vereinslebens im Dorf – in Erscheinung.

Bauern auf Pistenraupen. Ortsbauernobmann Christoph Plangger erzählt, wie man in den letzten 40 Jahren 40 Bauern verlor. Die verbliebene Handvoll betreibt Gästepensionen, fährt im Winter Pistenraupen oder ist selbst in der Geschäftsführung der Bahnen tätig. Vollerwerbsbauer ist hier keiner mehr. Und „zufriedenstellend“ sei die Zucht des typischen Tiroler Grauviehs nur durch die Verkäufe von jährlich 20 Tonnen Rindfleisch an die Berghütten, die einen 15-prozentigen Preisaufschlag zahlen. Daneben bekommen die Bauern aus dem örtlichen Landwirtschaftsförderungsfonds, der vom Tourismusverband, der Seilbahn und der Gemeinde seit 55 Jahren gespeist wird, pro Hektar bewirtschafteter Wiese 50 Euro im Jahr. Die Schicksalsgemeinschaft auf 1400 Metern Seehöhe ist allen Beteiligten bewusst. Die Landwirte brauchen die Seilbahner, die ihnen die bei der Viehzucht anfallenden Kosten für Dünger, Schlachtung und Entsorgung zahlen und Produkte wie Eier, Nudeln, Milch und Käse abnehmen. Und die Seilbahner brauchen das urige Lokalkolorit samt dem Grauvieh, der kultivierten Almlandschaft und den von den Seilbahnmitarbeitern ausgeliehenen Streichelzootieren, um ihren Urlaubern ein intaktes und pittoreskes Ökosystem präsentieren zu können.

Es war um 2005 herum, als die Skiregion Fiss-Ladis-Serfaus auch die „Inszenierung des Sommers“, wie es Pregenzer nennt, verstärkt entdeckte. 14.000 Menschen, vorrangig Familien mit kleinen Kindern, befördern die Lifte an Spitzentagen im Sommer auf die von Rodelbahnen und Erlebniswanderwegen dominierten Almen.

Der grüne Tourismussprecher Georg Willi begrüßt das Ganzjahreskonzept. Er fügt aber in Richtung aller Tiroler Seilbahner hinzu: „Wenn ihr wollt, dass die Leute auch im Sommer in die Berge gehen und eure Lifte nützen, müsst ihr sie ansprechend machen.“ Im Sommer würden die Wunden in der Landschaft sichtbar. Das merke er, wenn er als Tiroler das Bergwetterpanorama einschalte. „Da ist noch ganz viel Platz nach oben.“ Der in Fiss gelebte Ansatz, dass Arbeitsplätze nicht nur saisonal sein sollen, sei aber richtig. Willi erzählt, er habe sich bei einem Besuch gewundert, wie die Fisser Viersternehotels Halbpensionen zu teils 50 Euro pro Tag anbieten können. Die Antwort: Mit den Wanderern und Radfahrern wolle man bloß kostendeckend über die Runden kommen, das Geschäft bringe dann die Skisaison. Auch der sommerliche Seilbahnbetrieb selbst sei ein Nullsummenspiel, betont Pregenzer, aber er garantiere Ganzjahresarbeitsplätze für Mitarbeiter, die man an sich binden will. „Das Angebot auf dem Berg muss funktionieren, damit das Dorf funktioniert.“

Der Meinung waren auch die Einwohner der Südtiroler Gemeinde Sexten, die eines Nachts im Herbst 2013 ihre Kettensägen zur Hand nahmen, zehn Hektar Lifttrasse abholzten und so recht deutlich für die jahrelang von Naturschützern bekämpfte Fusion der Skigebiete Helm und Rotwand eintraten. Die Verbindung wurde vor zwei Jahren umgesetzt. Seit Betriebsbeginn habe sie den zwei Skigebieten Umsatzzuwächse von 55 Prozent gebracht, sagt Mark Winkler, der Geschäftsführer der dahinterstehenden Drei Zinnen AG. „Seit der Fusion ist eine Aufbruchstimmung da – unglaublich“, betont er. Mittlerweile seien auch die kritischen Stimmen im Gemeinderat verstummt.

Der schmale Grad zum Eigennutzen. Wie in Fiss bemüht man sich in Sexten hervorzustreichen, dass die Gemeinde und einige gut situierte Einwohner die Großaktionäre der Seilbahngesellschaft sind und noch nie einen Gewinn sehen wollten. Es sei aber angemerkt: Die Familien Holzer und Lanzinger, die jeweils 20 Prozent der Aktien halten und eine Fusion forcierten, betreiben zwei bekannte Nobelhotels in nächster Nähe. Winkler nennt ihre Investitionen in die Bahnen „idealistisch“. Wo hier genau die Grenze zwischen Altruismus und Eigennutzen verläuft, lässt sich bei der engen Verflechtung der lokalen Interessen nur noch schwer ausmachen. „Auf der einen Seite steht der Eingriff in die Landschaft, auf der anderen der verständliche Wunsch der Menschen in den hinteren Tälern, dort zu leben und zu arbeiten“, sagt der grüne Tourismussprecher Willi. Die Bauenden müssten ihre Kritiker zum Verstummen bringen, indem sie zeigten, dass es ihnen um das Gemeinwohl und nicht um den eigenen Profit gehe.

Als Paradebeispiel nennt er den Osttiroler Jalousienhersteller Franz Kraler. Er ist eine der treibenden Figuren hinter dem seit Jahren geplanten Zusammenschlusses des Südtiroler Skigebiets Sexten mit Sillian in Osttirol. „Das nennt sich noch Vision, nicht Projekt“, dämpft Mark Winkler auf Südtiroler Seite die Erwartungen an einen baldigen Zusammenschluss. Seine größte Angst ist, die rund hundert Grundbesitzer entlang der anvisierten Seilbahntrasse könnten Details aus der Presse erfahren. Es gebe „sehr gute Gespräche“ mit der Eigentümerfamilie Schulz auf der anderen Seite der Grenze – mehr kommt nicht über seine Lippen. Winkler hat aus dem kleinen Sextner Skandal gelernt.

Das Zwillingsparadoxon. Eine zweite Verbindung in die Gemeinde Comelico Superiore ist da schon deutlich mehr Projekt denn Vision. Nach Abzug der Brillenindustrie aus dem nördlichen Venetien gen Fernost und durch den ungebremsten Zweitwohnsitzkauf ist das am Lifthang liegende Dorf Padola den Großteil des Jahres über verwaist. Mit seinem Rost, den verschlossenen Fensterläden und dem bröckelnden Verputz wird es von Sextner Seilbahnern gern als Mahnung präsentiert für das, was passiere, wenn eine entlegene Bergregion nicht auf Tourismus setzt. Es mutet wie ein fragwürdiges Zwillingsexperiment an: Die Nachbarorte Sexten und Padola haben dieselben Dolomiten im Hintergrund – und außer dem Kreuzbergpass gefühlt 50 Jahre Tourismusentwicklung zwischen sich.

2012 übernahmen die Sextner die defizitäre Bahn Val Comelico – im Sommer 2018 soll die Verbindung gebaut werden. Dazwischen liegen bislang sechs Winter und ein Sommer mit Verlusten von 300.000 Euro jährlich. Diese nimmt man in Hoffnung auf einen baldigen Investitionsboom scheinbar gern in Kauf. Diesen Montag sprach Rom der Fusion staatliche Fördergelder in Höhe von 80 Millionen Euro zu. Nun brächten sich alle in Stellung, diagnostiziert Ivano De Martin Fabbro vom Tourismusverband in Padola. „Die Aufgabe der Gemeinde wird es sein, zu überwachen, ob richtig investiert wird.“ Mit richtig meint De Martin Fabbro, keine ausländischen Investoren hereinzulassen. Comelico mit seinen 2300 Einwohnern und ebensovielen kalten Betten wird seine Geschicke nicht mehr so schnell in fremde Hände legen.

Auf der anderen Seite des Kreuzbergpasses regt sich unterdessen leichte Nervosität angesichts der neu erstarkten Fusionspläne mit Osttirol. 150 der 634 Beherbergungsbetriebe im Hochpustertal waren 2015 als Anbieter von Urlaub auf dem Bauernhof ausgewiesen. Sie werden von Nebenerwerbsbauern betrieben, die winters die Pistenraupen lenken und ganzjährig Gäste empfangen, die das Naturverbundene suchen. Nebenerwerbsbauern, deren fragiles wirtschaftliches Ökosystem aus Nächtigungseinnahmen, Milchpreisen von 52 Cent bei der Ortssennerei und Abnahmegarantien für ihre Produkte von Skihütten und Hotels durch den stärkeren Wettbewerb mit Osttirol wanken würde.

Sillian sei wie ganz Osttirol deutlich billiger als Südtirol, sagt Bernhard Pichler von der Osttirol Werbung. Sillian sei gar nicht billiger, meint indes der Südtiroler Winkler. Egal, wer in diesem Punkt recht hat, am besten trifft es wohl Hotelier und Seilbahner Kurt Holzer, wenn er sagt: „Wenn die letzte Kuh geht, geht auch der letzte Gast.“

Die Autorin wurde vom Seilbahnfachverband und der Sparte Tourismus und Freizeitwirtschaft der WKO eingeladen.

Fakten

Die Ferienregion Serfaus-Fiss-Ladis im Tiroler Oberland hat 14.505 Betten auf 2650 Einwohner. Im Winter 2015/16 verzeichnete sie 1,6 Mio. Nächtigungen, im Sommer 2015 820.000.

Der Betrieb der Bergbahnen Fiss-Ladis wurden 1967 aufgenommen. Die Gemeinde ist zu 80 Prozent Eigentümer. 1999 schlossen sich die Skigebiete mit Serfaus zusammen.

Sexten am westlichsten Ausläufer des Südtiroler Hochpustertals hat 1913 Einwohner. Auch nach der umstrittenen Verbindung der Skigebiete Helm und Rotwand kann der Sommer mit 389.000 nach wie vor mehr Nächtigungen als der Winter mit 303.000 verzeichnen.

Die nächsten Skigebietsverbindungen sind schon geplant: 2018 ins Veneto in die Nachbargemeinde Comelico Superiore und in unbestimmter Zukunft nach Sillian in Osttirol.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.08.2016)

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