Wie es wirklich um Österreichs Lehrlinge steht

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Ist die Lehre zu unpopulär? Wie gefährlich ist mehr Freiheit im Handwerk? Dazu fünf Thesen.

Wien. Österreich, das zukunftsreiche Land der hämmernden Jugend: Seit Jahrzehnten üben sich Politiker und Wirtschaftstreibende in lautstarkem Selbstlob, wenn es um die Lehrlingsausbildung geht. Das duale System von Schule und Praxis dient vielen Staaten in aller Welt als Vorbild. Sicher, die Deutschen haben es auch. Aber die spezielle Kombination mit berufsbildenden Schulen ist fast weltweit ein Unikum. Auch die OECD sieht sie als einen Hauptgrund dafür, dass die Jugendarbeitslosigkeit mit rund elf Prozent immer noch weit unter dem EU-Schnitt von knapp 19 Prozent liegt. Aber die Sorgen mehren sich: Die Zahl der Lehrlinge – aktuell sind es 110.000 – geht zurück.

Bei der Jugendarbeitslosigkeit steht Österreich längst viel schlechter da als Deutschland. Dort hat man 2004 das Handwerk liberalisiert. Aber für den Fall, dass Österreich im Zuge einer Reform der Gewerbeordnung dem Beispiel folgt, sieht die Wirtschaftskammer ganz düstere Wolken aufziehen: Die Zahl der Lehrlinge im Gewerbe werde ebenso einbrechen wie die Qualität der angebotenen Produkte und Leistungen. Wie steht es also wirklich um die Lehre?

1 Dass die Zahl der Lehrlinge zurückgeht, ist vor allem ein demografisches Problem.

Es stimmt: Die Zahl der Lehrlinge sinkt. Aber das darf nicht überraschen: Wenn weniger Kinder zur Welt kommen, gibt es etwas zeitversetzt auch weniger Auszubildende. Daran kann auch ein noch so attraktives Angebot nichts ändern. Steuern lässt sich nur die relative Zahl: der Anteil neuer Lehrlinge an den aktuell Fünfzehnjährigen. Er ging Anfang der Neunzigerjahre deutlich zurück, von über 45 auf 40 Prozent. Dabei aber blieb es: Seitdem schwankt er nur noch zwei bis drei Punkte rauf und runter (aktuell 38 Prozent). Was sich geändert hat: Der Staat hat mit eigenen Ausbildungsplätzen dem Gewerbe einiges an pädagogischer Arbeit abgenommen. Seine überbetrieblichen Werkstätten bilden bereits 15 Prozent aller Lehrlinge aus.

2 Die steigende Zahl der Studienanfänger geht nicht auf Kosten der Lehre.

Wie aber passt das mit dem Trend zum Studieren zusammen? Die Zahl der Studienanfänger ist ja in den vergangenen zehn Jahren regelrecht explodiert. Sicher muss man den Zustrom der Deutschen abziehen. Aber auch die Studienanfängerquote, die nur Einheimische zählt, schießt in die Höhe, in Österreich wie beim großen Nachbarn. Das geht aber hierzulande offensichtlich nicht auf Kosten der Lehre – siehe Punkt eins. Eine andere Gruppe ist deutlich kleiner geworden: Wer früher eine Matura an einer berufsbildenden Mittelschule gemacht hat, fing sehr oft gleich danach zu arbeiten an. Heute gehen diese berufsnah Gereiften anschließend viel eher auf eine Fachhochschule. Deren Expansion hat einen neuen Weg eröffnet.

3 Weniger Meister, weniger Lehrlinge? Worum es in der Debatte WKO gegen Agenda geht.

Den Stein losgetreten haben 2013 die Höchstrichter: Die strenge Regulierung eines Handwerks samt Meisterprüfung ist nur dann zu rechtfertigen, wenn seine Ausübung Gesundheit, Sicherheit oder Vermögen des Kunden gefährden kann. Für die Fotografen, um die es damals gegangen ist, gilt das nicht. Aber auch viele andere der 80 regulierten Gewerke könnte man auf dieser Basis von viel Ballast befreien. Die geplante Reform der Gewerbeordnung macht das Thema wieder aktuell. Der liberale Thinktank Agenda Austria empfiehlt einen Kahlschlag: Nur 15 Meister-Gewerbe sollen bleiben. Die Wirtschaftskammer lobbyiert massiv dagegen. Sie verweist auf angeblich negative Folgen der deutschen Reform – vor allem, was die Lehrstellen betrifft.

4 Die deutsche Handwerksreform aus dem Jahr 2004 hat keine abschreckenden Folgen gehabt.

Zunächst argumentierte die WKO mit der stark sinkenden Zahl von Lehrlingen im deutschen Handwerk seit der Liberalisierung von 2004. Hauptgrund ist aber auch dort der demografische Wandel. Zudem verliert das Handwerk bei der deutschen Jugend schon länger an Beliebtheit, besonders stark in den Jahren vor der Reform. Im Gegenzug stieg der Anteil der Lehrstellen in Industrie und Handel. Das stärkste Argument der Agenda Austria aber ist der Vergleich der „befreiten“ mit den weiterhin regulierten Gewerken: Die Zahl der Ausbildungsplätze entwickelte sich in beiden Gruppen fast parallel (siehe Grafik). Aber die WKO legte noch einmal nach, mit einer Auftragsstudie bei der KMU Forschung Austria. Sie malt den Teufel an die Wand: Sollte Österreich dem deutschen Beispiel folgen, seien 20.000 der derzeit 46.000 Lehrstellen im Handwerk in Gefahr. Für Monika Köppl-Turyna von der Agenda Austria ist auch das falsch gerechnet. Sie vergleicht wieder liberalisierte mit nicht liberalisierten Bereichen und kommt zu dem Schluss: Wäre Österreich gleich dem deutschen Beispiel gefolgt, hätte diese Reform maximal 1000 Lehrstellen gekostet.

5 Der Bub Mechaniker, das Mädchen Friseurin: Die Vorlieben bei den Lehrberufen bleiben gleich.

Im Jahr 2002 wollten noch sehr viele Burschen Kfz-Mechaniker oder Installateur werden, sehr viele Mädchen Supermarktkassiererin oder Sekretärin. Und heute? Sieht es gleich aus, wie die Zahlen der Wirtschaftskammer zeigen (siehe Grafik oben). Die Geschlechterpräferenzen bei den Lehrberufen scheinen zementiert, auch wenn es nicht an Versuchen gemangelt hat, sie aufzuweichen. Immerhin: Die Metalltechnikerin hat sich bei den Mädchen in die Top Ten vorgearbeitet. Relativ wenig Bewegung gab es in den vergangenen zehn Jahren auch zwischen den Branchen. Außer beim Tourismus: Dort eine Lehre zu machen hat deutlich an Reiz verloren. Der Anteil (knapp neun Prozent) ist wieder auf das Niveau der 1980er zurückgefallen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2016)

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