Obwohl die Löhne stets stärker steigen als die Inflation, können sich die Österreicher kaum mehr leisten. Schuld ist die kalte Progression. Die Volkswirtschaft verliert gleichzeitig Wettbewerbsfähigkeit.
Wien. Am Montag startet die alljährliche Herbstlohnrunde. Dabei werden wie immer nicht nur Lohnforderungen aufeinanderprallen, sondern Weltbilder: Die Gewerkschaft sieht „ausgezeichnete Voraussetzungen für eine ordentliche Erhöhung der Löhne und Gehälter“. Anders Christian Knill, Arbeitgebervertreter der Maschinen- und Metallwarenindustrie: „Alles andere als ein moderater Abschluss ist Gift für den Standort.“ Die Gewerkschaft will sich an jenen 1,7 Prozent Wachstum orientieren, die das Wifo für heuer prognostiziert. Die Arbeitgeber der Metaller aber sehen in ihrer Branche ein Nullwachstum bei schwierigen Exportmärkten. Wie sind die Aussichten für die heurige Lohnrunde? Und wie ist es um die Lohnentwicklung in Österreich generell bestellt?
1. Das Wachstum ist heuer vergleichsweise hoch. Vor allem aber wegen Sondereffekten.
Das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo) rechnet für heuer mit 1,7 Prozent Wachstum, das Institut für Höhere Studien (IHS) mit 1,5 Prozent. Das ist gar nicht schlecht: In den Jahren davor lag es immer unter einem Prozent. Aber dieser Aufschwung ist vor allem auf Sondereffekte zurückzuführen: die Steuerreform etwa und die Flüchtlinge in der Mindestsicherung. Außerdem gibt es heuer mehr Arbeitstage als im Vorjahr. Ohne diese Sondereffekte gäbe es kaum mehr Wachstum als 2015.
Das Wachstum ist außerdem nicht stark genug, um genügend Arbeitsplätze zu schaffen. Und so verharrt die Arbeitslosigkeit auf Rekordniveau: Ende August hatten in Österreich 388.624 Menschen keinen Job, um 4039 mehr als ein Jahr davor.
2. Österreich verliert an Wettbewerbsfähigkeit – das liegt auch an den Lohnsteigerungen.
Die Wettbewerbsfähigkeit Österreichs hat sich in den vergangenen Jahren verschlechtert, vor allem im Vergleich zum wichtigsten Handelspartner, Deutschland. „Die Produktivitätsentwicklung hierzulande ist schwach, gleichzeitig sind die Löhne stärker gestiegen“, sagt IHS-Ökonom Klaus Weyerstrass. Das wesentliche Problem für Österreich sei die Inflation: Die ist mit rund einem Prozent (heuer, laut Oesterreichischer Nationalbank) zwar nicht wirklich hoch. Im Vergleich zur Eurozone (knapp über null) aber schon. Die Preise steigen in Österreich seit Jahren stärker als im Euroraum. Und damit auch die Löhne. So verliert Österreich an Wettbewerbsfähigkeit. Ein Indikator dafür sind die Lohnstückkosten: Sie messen, wie viel Arbeit im Vergleich zur Produktivität kostet. In Österreich legten sie seit 2000 um durchschnittlich 1,6 Prozent im Jahr zu, in Deutschland nur um 1,1 Prozent.
3. Heuer steigen die Reallöhne. Aber schon nächstes Jahr stagnieren sie wieder.
Auf dem Papier steigen die Löhne jedes Jahr stärker als die Inflation. Nur bleibt den Arbeitnehmern unter dem Strich kaum etwas von den Zuwächsen übrig. Als Folge stagniert die Kaufkraft. Obwohl die Löhne und Gehälter teils kräftig gestiegen sind, schrumpften die Nettolöhne der Arbeitnehmer nach Abzug der Inflation in den vergangenen sechs Jahren um fünf Prozent (inklusive 2015), so die Daten des IHS.
Schuld ist die kalte Progression. Löhne und Gehälter steigen mit der Inflation, aber weder die Steuerstufen noch die Absetzbeträge werden an die Teuerung angepasst. Für den Fiskus ist das ein gutes Geschäft: Die kalte Progression spült jedes Jahr mindestens 400 Millionen Euro zusätzlich in die Staatskasse. Die jüngste Steuerreform hat die Effekte der kalten Progression der vergangenen Jahre teilweise ausgeglichen. Die Regierung hat sich eigentlich darauf geeinigt, die kalte Progression ab 2017 abzuschaffen, Steuerstufen also automatisch anzupassen. Die Verhandlungen laufen aber noch.
4. Der größte Profiteur von Lohnerhöhungen sind nicht die Arbeitnehmer, sondern der Staat.
Also sind nicht die Gewerkschaften schuld, dass die Löhne kaum steigen. Die jährlichen Erhöhungen sind durchaus ansehnlich: Im Vorjahr schlugen die Verhandler 1,5 Prozent plus heraus, bei 0,9 Prozent Teuerung. Aber der größte Profiteur jeder Lohnrunde sind nicht die Beschäftigten, sondern der Staat. Nur Belgien knöpft seinen Bürgern mehr von ihrem Bruttoeinkommen ab als Österreich: Der Anteil der Steuern und Abgaben an den Arbeitskosten (Bruttolohn und Arbeitgeberbeiträge) eines alleinstehenden Durchschnittsverdieners betrug in Österreich im Vorjahr 49,5 Prozent, so die OECD. Im OECD-Schnitt waren es 35,9 Prozent.
5. Wie entwickeln sich die Löhne in nächster Zeit weiter?
Das tatsächlich verfügbare Einkommen (also netto und inklusive aller Transfers, abzüglich der Inflation) erhöht sich laut Prognose der OeNB heuer um 2,3 Prozent. Das ist der erste Zuwachs seit vielen Jahren. Und vielleicht schon wieder der letzte: Bereits nächstes Jahr stagnieren die Reallöhne laut IHS wieder. Denn für den heurigen Zuwachs ist die Steuerreform verantwortlich: ein Einmaleffekt, der schon bald wieder verpufft sein dürfte.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.09.2016)