Werner von Siemens: Offizier, Erfinder, Konzernvater

Werner von Siemens 1816 1892 Erfinder Begruender der Elektrotechnik und Gruender der Siemens AG
Werner von Siemens 1816 1892 Erfinder Begruender der Elektrotechnik und Gruender der Siemens AGimago/imagebroker
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Zum 200. Geburtstag des Unternehmensgründers Werner von Siemens beschwört der deutsche Technologiemulti wieder einmal den Pionier- und Gründergeist, um der nächsten industriellen Revolution Paroli bieten zu können.

Es war ein Start-up, würde man heute sagen. Dessen Entwicklung für das Europa von heute eigentlich untypisch ist. Denn die Geschichten von Hinterhofwerkstätten, wo begnadete und unbeirrbaren Tüftler grübeln, bis der Durchbruch zum Weltkonzern gelingt, kennen wir eher aus Amerika.

Solche klugen Köpfe, die sich mit Pioniergeist und Hartnäckigkeit durch alle Widrigkeiten boxen, gibt es auch in Europa. Früher war es aber offenbar leichter, ungeachtet der auch damals vorhandenen Bürokratie, dass aus einem Einmannbetrieb ein Großkonzern entstehen konnte. Ferdinand Porsche gehört zu diesen Pionieren, auch Gottfried Daimler, Carl Benz und Robert Bosch. Und Werner von Siemens, dessen Geburtstag sich übermorgen, Dienstag, zum 200. Mal jährt.

Was würde diese „Lichtgestalt“, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel den Begründer der modernen Elektrotechnik bei der offiziellen Geburtstagsfeier vor zwei Wochen in Berlin bezeichnete, heute zu seinem Unternehmen sagen? Würde er es noch erkennen und stolz sein? Letzteres sicher – mit ein paar kritischen Untertönen. Elektrizität bildet zwar nach wie vor das Rückgrat des Börsenschwergewichts, das mit 348.000 Mitarbeitern in mehr als 200 Ländern rund 80 Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftet. Aber abgesehen von der Größe und Globalität unterscheidet sich die Ausrichtung des Konzerns heute naturgemäß gravierend von der von Siemens und seinem Partner, Johann Georg Halske, 1847 gegründeten „Telegraphen Bau-Anstalt“. Alles andere als permanenter Wandel wäre auch fatal, auch wenn Siemens aufgrund der Alleinstellung in vielen Sektoren, der fetten Gewinne und der daraus resultierenden Behäbigkeit von Kritikern spöttisch lange Zeit als „Bank mit angeschlossenem Industriebetrieb“ bezeichnet wurde.

Die Umstrukturierung erfolgte manchmal äußerst vorausschauend, oft war sie vom Markt verlangt. Ab und zu waren es freilich nicht ganz freiwillige Entscheidungen, sprich hohe Verluste, die zur Veränderung zwangen. Ganze Sparten wurden abgestoßen oder zugesperrt und neue, wie der Bereich Infrastruktur und Städte, geschaffen.

Manche Schritte würde Siemens, der nicht nur ein begnadeter Erfinder, sondern auch ein vorsichtiger Kaufmann war, allerdings nicht goutieren. Was ihn mit dem nunmehrigen Konzernboss, Joe Kaeser, verbindet. Es dürfe nie wieder passieren, dass der Konzern bahnbrechende Veränderungen verschlafe, mahnt Kaeser bei jeder Gelegenheit. Damit spielt er auf eines der schwärzesten Kapitel in der 170-jährigen Firmengeschichte an: 2005 verkaufte Siemens die Handysparte an die taiwanesische BenQ. Nur ein Jahr später schlitterte das Mobilfunkgeschäft mangels Geldflüssen aus Taiwan in die Pleite – Tausende Jobs gingen verloren.

Telekommunikation revolutioniert. Den Ausstieg aus der Telekommunikation, der den damaligen Konzernchef, Klaus Kleinfeld – nebst der Korruptionsaffäre um milliardenschwere Schmiergeldzahlungen –, den Job des Vorstandschefs kostete, hätte Siemens nie gutgeheißen. Hat der Spross einer Gutspächterfamilie mit 14 Kindern aus Lenthe bei Hannover doch mit seiner Erfindung des Zeigertelegrafen die Welt der Telekommunikation revolutioniert.

Die Ideen dazu – und erste praktische Versuche auch zu anderen Erfindungen wie etwa zur elektrischen Galvanisierung – entwickelte Siemens in einem eher ungewöhnlichen Versuchslabor. Nach einem Duell, in das sich der beim Militär zum Leutnant avancierte junge Mann verwickeln ließ, kam er fünf Jahre in Festungshaft. In seiner Zelle experimentierte er. Beim Militär erhielt er als Offiziersanwärter die Gelegenheit, die gewünschte Ingenieurausbildung zu absolvieren. Ein Studium konnte sich die Familie Siemens aufgrund der engen finanziellen Verhältnisse nicht leisten.

Werner Siemens (den Adelstitel erhielt er erst knapp vor seinem Tod verliehen) war vom Siegenzug der elektrischen Energie überzeugt – viele seiner Entwicklungen basierten auf dem von ihm begründeten dynamoelektrischen Prinzip: die erste elektrische Eisenbahn, die erste elektrische Straßenbeleuchtung, der erste Oberleitungsbus. Und natürlich die Sprachübermittlung: Nur ein Jahr nach der Gründung bekam das junge Unternehmen den Auftrag für eine Telegrafenleitung von Berlin nach Frankfurt, wo die Nationalversammlung tagte. Ein Prestigeauftrag, würde man heute sagen.

Guter Draht nach Moskau. Als jedoch nach einiger Zeit keine Orders nachkamen, weil sich Siemens mit der preußischen Telegrafenverwaltung zerstritten hatte, eröffnete Siemens kurzerhand ein Büro in London und expandierte auch nach Russland. Auf den guten Draht nach Moskau ist man auch heute noch sehr stolz, auch wenn er gerade wegen der Sanktionen ziemlich erkaltet ist.

Kriege, Krisen, Skandale – auch das stetig wachsende Unternehmen konnte sich dem Weltgeschehen nicht entziehen. Und sorgte auch mit hauseigenen Affären für Schlagzeilen. Nicht erst 2006, als ein dichter Filz von Schmiergeldzahlungen aufflog. Die Gesamtkosten aus Strafen und Steuernachzahlungen machten knapp drei Milliarden Euro aus, der damalige Chef, Kleinfeld, und der bis dahin hoch angesehene Aufsichtsratsvorsitzende Heinrich von Pierer mussten den Hut nehmen.

Auch nicht erst, als bekannt wurde, dass Siemens im Zweiten Weltkrieg Zwangsarbeiter beschäftigte. Schon 1914 gab es einen Siemens-Korruptionsskandal, der letztlich zum Sturz der japanischen Regierung führte. Mitglieder der Marine hatten für die Lieferung von Kriegsschiffen Absprachen mit dem Unternehmen getroffen.

Herausforderung Industrie 4.0. Auf solche „Ereignisse“ kann Kaeser gern verzichten. Schon weniger auf den Erfindergeist und das unternehmerische Denken, das er jedem seiner Mitarbeiter einimpfen möchte. Denn schließlich steht der multinationale Koloss wieder vor einer riesigen Herausforderung: Industrie 4.0, die Digitalisierung der Produktionswelt. Die vor Kurzem gegründete Unternehmenseinheit Next 47 soll auch Start-ups aus dem Unternehmen fördern. Von der Anschubfinanzierung von einer Milliarde Euro (für die nächsten fünf Jahre) konnte Siemens einst nur träumen. Er erhielt die 6000 Taler Startkapital von seinem betuchten Vetter, Johann Georg. Auch vor 170 Jahren gab es also schon Business Angels.

Aber noch in einem anderen Punkt greift Kaeser in seiner Vision 2020 gern auf den Konzernvater zurück: bei der Mitarbeitermotivation. Siemens machte sich früh Gedanken um das Wohl seiner Beschäftigten, gründete eine Pensions-, Witwen- und Waisenkasse, führte eine Erfolgsbeteiligung („Inventurprämie“) ein und reduzierte die Arbeitszeit auf neun Stunden täglich. 1868 schrieb er an seinen Bruder, Carl, wie in den gerade neu aufgelegten „Lebenserinnerungen“ nachzulesen ist: „Mir würde das verdiente Geld wie glühendes Eisen in der Hand brennen, wenn ich treuen Gehilfen nicht den erwarteten Anteil gäbe.“

Sollten Konzernchef Kaeser einmal die Ideen ausgehen, findet er ja möglicherweise in einem kleinen Raum gleich nach dem Eingang in die neue futuristisch anmutende Konzernzentrale in München entsprechende Anregungen: Dort wurde liebevoll Siemens' winzige Werkstatt mit Werkbank, seinem Schreibtisch, Werkzeug und technischen Zeichnungen nachgebaut, wo er 1847 in Berlin den Zeigertelegrafen konstruierte. Gute Ideen brauchen eben nicht viel Platz.

Erfindergeist

Werner von Siemens: „Lebenserinnerungen“. Mit einem Vorwort von Matthias Kamp (Wirtschaftswoche). Finanzbuch-Verlag, 2016

Nathalie von Siemens: „Der brodelnde Geist. Werner von Siemens in Briefen“. Murmann-Verlag,2016

Johannes Bähr: „Werner von Siemens. Eine Biografie“. Verlag C.H. Beck, 2016

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.12.2016)

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