Sozialstaat wächst stärker als Wirtschaft

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Erstmals in der Geschichte werden in Österreich knapp 100 Milliarden Euro für Sozialleistungen ausgegeben. Der Sozialstaat wächst damit wesentlich stärker als die Wirtschaft.

In dieser Woche gab es gleich drei wichtige Ereignisse, die zeigen, wie in Österreich die Ausgaben für den Sozialstaat immer mehr aus dem Ruder laufen. Zunächst wurde im Wiener Rathaus trotz Protest der Oppositionsparteien das Budget für 2017 abgesegnet. Demnach wird der Schuldenberg der Wiener auf einen Rekordstand steigen. Vor allem mit den Ausgaben für Soziales geht es nach oben, was mit der Mindestsicherung zusammenhängt. Wenige Tage später wurde im Nationalrat der Pensionistenhunderter für alle abgesegnet. Allein diese Aktion kostet 210 Millionen Euro. Und am Mittwoch streikten die Hausärzte in Wien, Kärnten und im Burgenland. Hier geht es unter anderem um einen Teilumbau des Gesundheitssystems. Nicht zu vergessen ist der Streit zwischen der EU-Kommission und Österreich in Sachen Familienbeihilfe für Kinder im EU- beziehungsweise EWR–Ausland. Ob Pensionisten, Mindestsicherungsbezieher oder Ärzte: Jede Gruppe kämpft für sich um mehr Geld. Nur wenige haben dabei die Gesamtkosten im Blick.

Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt hat die Statistik Austria in dieser Woche die neuesten Daten über die Sozialausgaben veröffentlicht. Demnach sind im Vorjahr die Sozialleistungen um mehr als 3,3 Milliarden Euro auf 99,9 Milliarden Euro gestiegen. Das ist ein neuer Rekord. Erstmals wurden in einem Jahr fast 100 Milliarden Euro für Soziales ausgegeben. Die Steigerungsraten sind enorm.

Während im Vorjahr das allgemeine Wirtschaftswachstum bei knapp 1,0 Prozent gelegen ist, erhöhten sich die Sozialausgaben um 3,4 Prozent. Das Plus ist allerdings nicht nur auf die Flüchtlinge zurückzuführen. Der Großteil der Leistungen kommt alten Menschen zugute. Dazu gehören beispielsweise die Pensionen.

Laut Statistik lagen die Ausgaben für ältere Menschen zuletzt bei 44,2 Milliarden Euro. Unterm Strich entfallen bereits 44,3 Prozent aller Sozialleistungen auf diesen Bereich. Aufschlussreich ist die langfristige Entwicklung. 1980 lag der Anteil für den Bereich Alter bei 32 Prozent, 1990 waren es 37 Prozent und 2000 rund 39 Prozent.

Mangelnder Reformeifer. Der Internationale Währungsfonds (IWF) fordert Österreich hier zum Gegensteuern auf. Werden keine nachhaltigen Reformen eingeleitet, dürften die Staatsschulden bis 2060 auf über 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen, warnen die IWF-Experten. Sie empfehlen, die Zahl der Frühpensionierungen weiter zu reduzieren. Zudem sollen ältere Menschen länger in Beschäftigung gehalten werden. Doch die Umsetzung ist alles andere als einfach. Denn in den vergangenen Monaten stieg vor allem die Arbeitslosigkeit bei Menschen, die älter als 50 Jahre sind.

Der zweite große Brocken ist mit 25,4 Milliarden Euro laut Statistik Austria die Sparte „Krankheit/Gesundheitsversorgung“. Somit fließen in Summe fast 70 Prozent der Sozialaufwendungen in Alters- und Gesundheitsleistungen. Allerdings ist hier ein wichtiger Unterschied zu beachten. Während die Aufwendungen für ältere Menschen kontinuierlich steigen, lässt sich im Gesundheitsbereich ein anderer Trend ablesen. 1980 entfielen 29 Prozent aller Sozialausgaben auf die Gesundheit, in den Jahren 1990 und 2000 waren es 26 Prozent. Zuletzt lag der Anteil bei 25,4 Prozent. Trotzdem besteht auch hier Einsparungspotenzial. Schließlich fließt der Großteil der Gesundheitsausgaben in den stationären Bereich wie in die Spitäler.

Die Industriestaatenorganisation OECD kritisiert seit Jahren, dass Österreich weltweit zu jenen Ländern mit den meisten Spitalsbetten gehört. Die vielen Spitalsaufenthalte lassen sich nicht durch die Bevölkerungsstruktur erklären. Denn skandinavische Länder wie Finnland und Schweden haben einen deutlich höheren Anteil an älteren Personen, trotzdem ist dort die Hospitalisierungsrate niedriger.

Umbau des Gesundheitssystems. Der Rechnungshof weist darauf hin, dass im österreichischen Spitalswesen 4,75 Milliarden Euro eingespart werden können. Das Geld könnte für alternative, insbesondere ambulante Behandlungsformen verwendet werden.

Doch Reformen bleiben aus, denn für die Spitäler sind die Bundesländer zuständig. Der Rechnungshof kritisiert, dass der Bund hier kaum Einflussmöglichkeiten hat. Die Krankenhäuser sind darauf bedacht, ihre Betten zu füllen. Nach Angaben der Ärztekammer könnte man viele Patienten ambulant behandeln. Doch für die Spitäler ist es ein Geschäft, wenn an sich ambulante Patienten auch über Nacht bleiben. Legendär sind auch die OECD-Statistiken, die besagen, dass in keinem Land etwa Knie und Hüften so häufig operiert werden wie in Österreich.

Ein eignes Thema ist die Zusammenlegung der Sozialversicherungsträger, über die seit Jahren diskutiert wird. Weil das meiste Geld für Alter und Gesundheit ausgegeben wird, bleibt für andere Bereiche nicht mehr allzu viel übrig. 9,6 Prozent aller Sozialausgaben entfallen auf Familien und Kinder (wie Familienbeihilfe, Kinderabsetzbetrag, Kinderbetreuungsgeld und Karenzgeld). Niedriger ist mit 5,6 Prozent der Anteil, der für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verwendet wird.

Ein kleiner Teil der Sozialausgaben fließt in die Flüchtlingshilfe. Diese ist in der Statistik unter anderem in der Sparte „Wohnen und soziale Ausgrenzung“ zu finden. Dazu gehören etwa alle Wohn-, Mietzins- und Mietbeihilfen, die Mindestsicherung der Länder und Gemeinden sowie die Flüchtlings- und Asylbetreuung durch den Bund. Zwar sind im Vorjahr die Leistungen in diesem Bereich um 18,8 Prozent auf 2,29 Milliarden Euro gestiegen, doch nur 2,3 Prozent aller Sozialausgaben entfallen auf „Wohnen und soziale Ausgrenzung“.

Die OECD wird die Zahlen im nächsten Jahr für einen Ländervergleich verwenden. Es ist zu erwarten, dass Österreich bei den Sozialausgaben wieder in der Spitzengruppe landen wird. Trotzdem stellt sich die Frage nach der Treffsicherheit. So kritisierte zuletzt die Caritas, dass in Österreich knapp 220.000 Menschen leben, die im Winter ihre Wohnung nicht angemessen warm halten können, weil sie zu wenig Geld haben.

Milliarden

44,2Milliarden Euro − so hoch sind in Österreich die Sozialleistungen für den Bereich Alter.

25,4Milliarden Euro fließen in den Bereich Krankheit/Gesundheitsversorgung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.12.2016)

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