Der mühevolle Aufbruch im griechischen Alltag

Das Leben ist hart, aber es geht aufwärts. Und ausgehen muss sein – hier in Nafplio (Peloponnes).
Das Leben ist hart, aber es geht aufwärts. Und ausgehen muss sein – hier in Nafplio (Peloponnes).(c) Linkel/picturedesk.com
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Die Bevölkerung hält sich mit prekären Jobs über Wasser, die Banken verzichten auf Schulden.

Athen. Es gibt weniger, was in Griechenland langweiliger ist als Wahlveranstaltungen. Immer gewagtere Kamerafahrten mussten die Techniker entwerfen, um für das TV-Publikum die immer schütterer werdenden Mengen in Massenveranstaltungen zu verwandeln. Die sozialistische Pasok engagierte sogar für ein paar Euro Handgeld Asylbewerber, um das ausbleibende Wahlvolk beim Wedeln mit Pasok-Fahnen zu ersetzen.

Es gibt jedoch eine große Ausnahme von diesem Bild der Demobilisierung und der Wurstigkeit der Massen: Am Freitag, den 3. Juli 2015 bei der Rede von Ministerpräsident Alexis Tsipras zwei Tage vor der Volksabstimmung über die Vorschläge der Gläubiger für das nächste Sparmemorandum – für viele eine Abstimmung über den Verbleib in der Eurozone – war der Syntagma-Platz vor dem Parlament zum Bersten mit Abertausenden jungen Menschen gefüllt. Man hatte das Gefühl, dass sich eine ganze Generation auf dem Platz versammelte, um ihren Hoffnungsträger zu feiern. Bereits zwei Tage später war alles vorbei. Tsipras gewann zwar die Volksabstimmung, vollzog aber bereits am selben Abend die wichtigste Kehrtwende seiner Karriere: Er zeigte sich plötzlich kompromissbereit und einigte sich in der Folge mit den Gläubigern.

Seither sind zwei Jahre vergangen, längst ist die Begeisterung für den jugendlichen linken Volkstribun Tsipras verflogen, die jüngste größere Versammlung von Jugendlichen war bezeichnenderweise am 17. Juli eine Protestveranstaltung von rund 200 Linksautonomen, in deren Verlauf 67 Geschäftsauslagen in der zentralen Athener Einkaufsstraße, der Ermou, zu Bruch gingen.

Das ist das politische Muster: Ein kleiner Teil wandert an die linken oder rechten Ränder, viele andere versuchen ihr Glück im Ausland, der Rest kämpft sich, so gut es geht, durch den griechischen Alltag.

Akademikerjob für 600 Euro im Monat

Nein, der Hochstimmung des Sommers 2015 folgte kein plötzlicher Katzenjammer. Die Griechen haben gelernt, mit der Situation pragmatisch umzugehen. Die Lage hat sich in den vergangenen zwei Jahren auch tatsächlich gebessert: Nach 2014 lag die Arbeitslosenrate zwischen 26 und 27 Prozent, im März dieses Jahres bei unter 22 Prozent. Das bedeutet jedoch noch lang nicht, dass es den Jungen gut geht. Etwa die Hälfte der neu geschaffenen Arbeitsplätze sind Teilzeitarbeitsplätze oder Jobs mit freien Arbeitsverträgen, in denen sich die jungen Leute selbst um ihre Versicherung kümmern müssen, und von bezahltem Urlaub ist keine Rede.

Das ist die Situation, in der Eva K. lebt, eine junge, begabte Anwältin mit guten Abschlüssen und Sprachkenntnissen. Sie arbeitet für eine gut gehende Athener Rechtsanwaltsgesellschaft. Sie bekommt 600 Euro im Monat, selbstverständlich ist sie keine Angestellte, sondern freiberuflich tätig. Die Partner der Gesellschaft geben offen zu: Sie könnten es sich nicht leisten, den Nachwuchs anzustellen, die Sozialversicherungsbeiträge seien nach der jüngsten „Reformvereinbarung“ mit den Gläubigern so hoch geworden, dass sie zusperren müssten.

Es ist kaum möglich, den Alltag in Griechenland statistisch zu erfassen. Eckzahlen belegen das Schrumpfen des Gesamtertrags der Volkswirtschaft um etwa ein Viertel in den vergangenen sieben Jahren und den Rückgang des Einkommens der Haushalte um mehr als 40 Prozent. Was das für das Individuum bedeutet, ist indes schwer zu sagen. So hat sich etwa – statistisch gesehen – die Gefahr der Armut in Griechenland 2016 auf 21Prozent eingependelt, allerdings mit einem gewaltigen Misston: Die Armutsgrenze liegt statistisch bei 60Prozent des durchschnittlichen verfügbaren Einkommens – das hat sich aber seit 2009 drastisch gesenkt.

Pensionisten suchen Essen im Müll

Aussagekräftiger sind Alltagsbeobachtungen, von den Heeren der Obdachlosen bis zu den Pensionisten, die im Müll nach Nahrung suchen, und den endlosen Schlangen vor den Schlichtungsstellen der staatlichen Stromgesellschaft. Alltag sind heute auch die Telefonanrufe, die ein großer Teil der Bürger erhält: Inkassofirmen, die für Banken, Telefonfirmen und andere anrufen und Schulden einfordern. Etwa 45Prozent der innergriechischen Kredite werden nicht bedient, das dürfte weltweit ein Rekord sein.

In letzter Zeit jedoch gibt es mitunter bemerkenswerte Angebote. So meldete sich bei Christos G. eine Anwältin, die ihn ohne Umschweife fragte: „Wollen Sie, dass wir die Hälfte Ihrer Kreditkartenschuld streichen?“ Er einigte sich auf eine Laufzeit der Rückzahlung von zwei Jahren – bei Streichung von 40 Prozent der Schuld. Hintergrund ist die neue Flexibilität der Banken: Hoffnungslose Kredite werden an internationale Fonds veräußert, der Rest des Portefeuilles wird behalten: mit hohen Nachlässen für die Schuldner.

Die neue Realität ist verwirrend komplex. Es scheint aber, dass die Griechen die Chancen, die die Zeit bietet, mit Realismus und Augenmaß erkennen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.07.2017)

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