Analyse

Spätsommernachts-Albtraum Brexit

Ausgeläutet: Big Ben, größte Glocke im Elizabeth Tower, wird bis 2021 repariert.
Ausgeläutet: Big Ben, größte Glocke im Elizabeth Tower, wird bis 2021 repariert. (c) APA/AFP/TOLGA AKMEN
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Der Traum der britischen Regierung, außerhalb der EU zu einer Freihandelssupermacht zu werden, zerschellt an ihrer Unfähigkeit, den Austritt aus der Union zeitgerecht zu verhandeln.

Brüssel. Big Ben, die größte Glocke im Uhrturm des Westminster Palace, hat am Montag für vorerst vier Jahre (mit Ausnahme hoher Festtage) zum letzten Mal geschlagen, und einige Abgeordnete des britischen Unterhauses ließen es sich nicht nehmen, diesem Schauspiel mit gesenktem Haupt und der einen oder anderen Träne im Augenwinkel beizuwohnen. Nach seiner Reparatur soll das Uhrwerk ab 2021 wieder reibungslos laufen.

Von den Verhandlungen über den Austritt des Vereinten Königreichs kann man das nicht behaupten. Vor Beginn der dritten Gesprächsrunde, die nächste Woche in Brüssel stattfinden wird, sind die Europäer und die Briten in allen Schlüsselfragen kaum verändert weit voneinander entfernt. Woran spießt es sich? Was passiert, wenn es einen „Hard Brexit“ gibt, also ein Ende der britischen Unionsmitgliedschaft ohne vereinbarte Bedingungen für die Zeit nach dem 29. März 2019? Eine Analyse der wichtigsten Bruchstellen.

1 Die Briten haben die Komplexität des Brexit stark unterschätzt.

Die sonnige Beliebigkeit, mit welcher der britische Chefverhandler, David Davis, die ersten beiden Gesprächsrunden kommentierte, konnte die inhaltliche Dürftigkeit seiner Verhandlungspositionen nicht übertünchen. Davis glaubt, ähnlich wie seine Regierungskollegen, noch immer, dass sich der Austritt seines Landes aus der Union parallel zur Gestaltung des neuen Verhältnisses zu derselben verhandeln lasse. Michel Barnier, der europäische Chefverhandler, muss diese Vorstellung immer und immer wieder zurückweisen. Zuerst die Scheidung, dann die Klärung der Obsorge für die gemeinsamen Kinder: Dieser Vergleich aus dem Familienrecht prägt die Haltung der EU-Verhandler. Übrigens sehen das nicht nur Barnier und seine Brüsseler Kommissionsequipe so: Das offizielle Verhandlungsmandat, beschlossen von den 27 Regierungen der Mitgliedstaaten, schreibt diese Linie fest.

2 Bis Herbst 2018 muss alles fertig sein: Das ist praktisch unmöglich.

Stichtag für den Brexit ist der 29. März 2019 – doch die Verhandlungen müssen schon ein halbes Jahr zuvor beendet sein. Denn sowohl der britische Gesetzgeber als auch das Europaparlament müssen dem Abkommenstext zustimmen. Dazu müssen ihre Ausschüsse sich mit dem Papier befassen können: vom Rat der EU, also dem Gremium der Regierungen, ganz zu schweigen. Bis Oktober oder November 2018 müssen somit alle Texte fertig sein. Das wird ohne eine Beschleunigung des bisherigen Verhandlungstempos nicht möglich sein.

3 Der EU-Gerichtshof ist für London ein unvermeidliches Feindbild.

Sich der „fremden“ Gerichtsbarkeit des Gerichtshofes der Europäischen Union in Luxemburg zu entziehen, die Rechtssprechung wieder einzig britischen Richtern in die Hände zu legen: Das war eines der Versprechen der Befürworter des Brexit. Doch der von der Boulevardpresse angefeindete Gerichtshof ist das Fundament der Rechtskontrolle in der Union – und das soll auch nach dem Brexit für alle Belange gelten, welche die Grundrechte von Unionsbürgern im Vereinten Königreich betrifft. Ein klassische Unvereinbarkeit: Für London geht es nur ohne, für die Europäer nur mit dem EuGH. Die Schaffung eines gemischten Gerichts für alle Fragen, die nach dem Brexit richterlich zu entscheiden sind, wird von britischer Seite ins Spiel gebracht. Das wäre ein enormes Zugeständnis der 27 – doch für welche Gegenleistung?

4 London hat sich in die Abhängigkeit der verhassten EU begeben.

Der „Hard Brexit“ beflügelt zwar noch immer einige Befürworter einer ruckartigen Abkoppelung von der Union. Dieser Tage geisterte zum Beispiel ein Papier von Ökonomen, die für den Brexit geworben hatten, durch die Medien, demzufolge eine rasche Trennung von der EU die britische Volkswirtschaft kraft Deregulierung und Abschaffung aller Zölle jährlich um fast 150 Milliarden Euro wachsen ließe. Tatsächlich allerdings winkt London ein paradoxes Szenario, in dem seine Hoffnung auf die Wiedererlangung der „nationalen Souveränität“ ohne Brüsseler Vorgaben zu einer starken Abhängigkeit vom Gutwillen der verhassten Union führt. Denn der „Hard Brexit“ bedeutet, dass alle EU-Gesetze um Schlag Mitternacht, 29. März 2019, im Vereinten Königreich nicht mehr gelten. Das betrifft die Regelung des zollfreien Austausches von Waren und Dienstleistungen im Binnenmarkt ebenso wie den internationalen Flugverkehr. Zölle und Importkontrollen für britische Güter, europäische Landeverbote für Flugzeuge aus Heathrow? Um das abzuwenden, wird es eine Erstreckung der Verhandlungsfrist brauchen. Doch dazu ist die einstimmige Zustimmung der 27 EU-Regierungen erforderlich. Es wäre erstaunlich, hätte sie keinen Preis.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.08.2017)

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