Argentinien erlebt ein Stundenhotel-Sterben

Puerto Madero/Buenos Aires
Puerto Madero/Buenos Aires (c) imago/robertharding (imago stock&people)
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Familien haben kein Problem mehr damit, dass die Tochter ihren Freund nach Hause bringt. Und viele junge Leute ziehen gleich in eine WG. Das macht das Überleben für die zahlreichen „telos“ schwierig.

Buenos Aires. Von einer großen Stadt, die eine katholische Tradition, einen Hafen und eine, sagen wir, permissive politische Prägung besitzt, sollte man annehmen, dass Unzucht stets Konjunktur habe. Doch ausgerechnet in Buenos Aires, der Heimat des Tangos, des Ballexzentrikers Maradona und des Papstes Franziskus zeigt sich gerade, dass nicht einmal die Sünde gegen die Grundregeln der Ökonomie ankommt.

Es ist eine Realität, die sich in den Lokalteilen der Tagespresse niederschlägt, unter Titeln wie: „Schon wieder sperrt ein ,telo‘ zu“. Nun muss man Außenlebenden erst mal erklären, dass „telo“ die verquere Form einer aus dem Französischen importierten Vokabel ist, zudem unter der landestypischen Weglassung des „H“. Und dass Hotels, deren zweite Silbe vor der ersten ausgesprochen wird, gemeinhin keine Betten bereitstellen, in denen irgendjemand schlafen will. 200 Stundenetablissements zählte vor ein paar Jahren der Autor Juan Pablo Casas. Doch nun sind nur noch 135 in Funktion. Tendenz: fallend.

Die erste Erklärung dafür liefert in der Stadt mit der höchsten Psychologendichte der Welt natürlich deren Unterzunft der Sexologen: Die Einstellung der Familien sei liberaler geworden, heutzutage hätten viele Familien kein Problem mehr damit, wenn die Tochter ihren „novio“ mit aufs Zimmer nimmt, oder wenn am Frühstückstisch ein Mädchen neben dem Sohn des Hauses Platz nimmt. Tatsächlich bildete die Tatsache, dass junge Argentinier oft bis zur Eheschließung unter dem Dach der Eltern wohnen, lange eine zentrale Geschäftsgrundlage der „Durchgangs-Herbergen“, so der offizielle Terminus. In der Generation mittleren Alters dürfte es wenige Individuen geben, die niemals ein „telo“ von innen gesehen haben.

Immobilienfirmen kommen

Aber nun, so klagen die Stundenhoteliers, bleiben die jungen Kunden aus. Viele sparen sich die Pesos, mieten gleich ein Zimmer in einer WG. Und seit sich die Regierung von Mauricio Macri dem Subventionsabbau verschrieben hat und die Tarife für Strom, Gas und Wasser um ein Vielfaches gestiegen sind, explodieren die Betriebskosten. Generell stiegen zuletzt die Preise für Lebensmittel, Kleidung, Medikamente, Benzin und Restaurantbesuche schneller als die Gehälter der Argentinier.

Und eine weitere Wirtschaftsentwicklung gefährdet den Fortbestand der Stunden-Hotellerie: Ein Bauboom, ausgelöst durch staatlich geförderte Hypothekarkredite. Auf die mehrstöckigen und unrentablen Gebäude in den ruhigen Nebenstraßen haben es nun die Immobilienentwickler abgesehen. Es gibt kaum einen Hotelbesitzer, der nicht täglich Angebote von Bauunternehmen bekäme. Und diese Spezies erweist sich als wesentlich begieriger als sämtliche Kunden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.01.2018)

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