Die Griechen warten noch auf den Aufschwung

(c) REUTERS (Alkis Konstantinidis)
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Nach acht Jahren am Tropf der Geldgeber kann sich Athen für „unabhängig“ erklären. Aber für die Bevölkerung ist die Krise noch nicht vorbei.

Athen. Es ist schon einige Zeit her. Am 23. April 2010 baute sich der damalige griechische Ministerpräsident, Giorgos Papandreou, im malerischen Hafen des Inselchens Kastelorizo vor den TV-Kameras auf und verkündete seinen Landsleuten, dass die Regierung unter dem neu geschaffenen europäischen Rettungsschirm Schutz suchen musste. Das Land konnte sich nicht mehr über die internationalen Finanzmärkte finanzieren und stand vor dem Bankrott. Als Ziel nannte er schon damals „die Befreiung von Aufsicht und Vormundschaft“.

Acht Jahre später ist es tatsächlich so weit: Am 20. August 2018 verlässt Griechenland den europäischen Rettungsschirm (ESM) und hat damit, so Premier Alexis Tsipras, seine Unabhängigkeit wiedergewonnen. Ursprünglich wollte man den Ausstieg groß feiern, doch nicht nur wegen der Brandkatastrophe in Ostattika Ende Juli ist man davon abgegangen.

Selten zuvor ist ein finanzpolitischer Erfolg weiter an der subjektiven Wahrnehmung der betroffenen Bevölkerung vorbeigegangen. Wie das Eurobarometer vom März 2018 bestätigt, sieht niemand in Europa seine wirtschaftliche Lage schwärzer als die Griechen (98 Prozent) – und niemand blickt auch pessimistischer in die Zukunft: 88 Prozent der Bevölkerung glauben, dass in einem Jahr die Lage gleich schlecht oder gar noch schlechter sein wird. Es ist auch kein Wunder, dass die Menschen pessimistisch sind – trotz der Erfolgsmeldung vom Verlassen des Rettungsschirms.

In den vergangenen acht Jahren ist die griechische Volkswirtschaft um ein Viertel geschrumpft, die Griechen haben durchschnittlich ein Viertel ihres Einkommens eingebüßt, Hunderttausende verloren auch ihre Arbeitsplätze. Die makroökonomischen Daten haben sich zwar stark verbessert, aber in den Brieftaschen ist vom Aufschwung noch wenig zu spüren.

Die Entgleisung

Angefangen hat alles im Herbst 2009, als Griechenlands frischgebackener Finanzminister, Giorgos Papakonstantinou, zugeben musste, dass das griechische Budgetdefizit im zweistelligen Bereich liegen werde. Der heutige EU-Kommission-Präsident, Jean-Claude Juncker, damals Euro-Gruppen-Vorsitzender, tat den sehr undiplomatischen Ausspruch: „The game is over“ – das war der informelle Beginn der griechischen Schuldenkrise.

Wie hat es dazu kommen können? Mit um die hundert Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) befanden sich Griechenlands Schulden schon über ein Jahrzehnt lang am Limit. Doch die Partner drückten beide Augen zu, Athen fand Aufnahme in der Eurozone. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends stiegen Einkommen und Lebensstandard der Griechen, allerdings auch Haushaltsdefizite und Staatsschulden. Als 2009 die internationale Wirtschaftskrise Griechenland erreichte, versuchte die konservative Regierung, durch eine weitere Ausweitung der Staatsausgaben gegenzusteuern – und blähte Defizite und Schulden noch weiter auf. Das Budgetdefizit betrug 2009 letztlich 15,6 Prozent, die Staatsschuld 130 Prozent; die Wirtschaft aber war nicht wettbewerbsfähig, wie das immens hohe Leistungsbilanzdefizit von elf Prozent des BIPs zeigte. Als die Risikoaufschläge der griechischen Staatsanleihen in der Folge immer mehr in die Höhe kletterten, wurde der erste europäische Rettungsschirm gezimmert. Das war der EFSF: European Financial Stability Facility, ein Zungenbrecher.

Und als Athen ihn in Anspruch nehmen musste, erhielt es einen Kredit von 110 Milliarden Euro mit einer Verzinsung von fünf Prozent, rückzahlbar nach drei Jahren – drakonische Bedingungen. Löhne, Pensionen und Versicherungsleistungen wurden gekürzt, das Pensionsalter auf 67 Jahre angehoben und unzählige Steuern sowie Abgaben erhöht. Bereits 2012 sollte die Wirtschaft wieder wachsen, das Land auf die Anleihenmärkte zurückkehren, Ende 2014 die Budgetsanierung abgeschlossen sein – es war im Rückblick ein Programm, das die Widerstandskraft der griechischen Wirtschaft fahrlässig überschätzte.

Die Folge: Fast alle Räder standen still. Besonders in der Privatwirtschaft begannen die Entlassungswellen, die Arbeitslosenrate kletterte bis 27,9 Prozent im Juli 2013. Das mehr als lückenhafte soziale Netz sorgte für ein Heer von neuen Armen, für Millionen Unversicherter.

Der Schuldenschnitt

Im Oktober 2011 trat Premier Giorgos Papandreou zurück, eine von den Großparteien gestützte Technokratenregierung zog die Abstimmung zum zweiten Spar- und Reformpaket von 130 Milliarden Euro durch und realisierte den von Papandreou vereinbarten „Haircut“ von privaten Papieren, das heißt einen Schuldenschnitt in Höhe von 100 Milliarden Euro.
Nach einer chaotischen Doppelwahl im Mai und Juni 2012, die das Land an den Rand des Euroausstiegs getrieben hatte, bildete schließlich der Konservative Antonis Samaras, bis dahin selbst ein bitterer Memorandumsgegner, eine Koalitionsregierung und brachte das Land zurück auf Kurs.

2014 gab es ein zartes Wirtschaftswachstum, im Frühjahr nahm Athen dann erfolgreich Geld auf den internationalen Anleihenmärkten auf, scheiterte jedoch bei einem zweiten Versuch im Herbst. Spätestens ab Mitte des Jahres zeichnete sich ab, dass noch zusätzliche Sparmaßnahmen notwendig waren, um die von den Gläubigern errechneten Haushaltslücken zu stopfen. Außerdem fehlte Samaras immer mehr der Rückhalt in der Bevölkerung, das „politische Risiko“ bei anstehenden Wahlen senkte die Kreditwürdigkeit des Landes.

Die Gläubiger und die Regierung Samaras konnten sich nicht auf Maßnahmen zum Abschluss des zweiten Programms einigen. Bei den folgenden Wahlen Ende Jänner 2015 gewann Alexis Tsipras vom radikalen Linksbündnis Syriza. Der Volkstribun der enttäuschten, wütenden Mehrheit ging auf Konfrontationskurs zu den Gläubigern. Er glaubte, die „Memoranden zerreißen“ und die Schuldentilgung erpressen zu können. Symbol für diese Politik wurde sein neuer Finanzminister, Yanis Varoufakis.

Das Experiment

Ende Juni 2015 lief das zweite Programm mit der EU aus, ohne dass eine Vereinbarung mit den Gläubigern getroffen worden wäre, die die Finanzierung des Landes sicherstellte. Tsipras ließ am 5. Juli 2015 eine Volksabstimmung abhalten, um seinen Kurs zu bestätigen, riss angesichts des erneut drohenden Ausscheidens aus der Eurozone jedoch noch in derselben Nacht das Steuer herum und entließ Varoufakis. Eine Woche später einigte man sich auf das dritte Hilfsprogramm in der Höhe von 86 Milliarden Euro. Ebenjenes, das in diesen Tagen ausläuft.

Die Regierung Tsipras wandelte sich in der Folge zum verlässlichen Partner, der die teure Rechnung für die anfänglichen Eskapaden abarbeitete. Das Land produziert Budgetüberschüsse; die Arbeitslosigkeit ging in den letzten Monaten erstmals seit 2012 auf unter 20 Prozent zurück, der Konsum steigt, der Immobilienmarkt kommt in Schwung. In den ersten drei Monaten des Jahres gab es ein Wachstum von 2,3 Prozent, das Land durchlebt die beste Tourismussaison aller Zeiten, die Zeichen stehen günstig.

Dennoch tut Athen einen Schritt ins Ungewisse. Das Land verfügt zwar über einen Kapitalpolster von 24 Milliarden Euro, muss aber mittelfristig auf die Anleihenmärkte zurückfinden. Derzeit sieht es nicht gut aus: Die Renditen der zehnjährigen griechischen Anleihen liegen über vier Prozent. Die faulen Kredite im Bankensystem machen um die 45 Prozent aus und sind damit immer noch viel zu hoch.

Selbst die Kapitalkontrollen, die im Sommer 2015 verhängt wurden, sind noch nicht gänzlich aufgehoben – ein Schwächezeichen. Größter Hemmschuh für ein langfristig hohes Wirtschaftswachstum sind aber die Budgetüberschüsse, die jetzt erwirtschaftet werden müssen. Bis 2022 sollen es jährlich 3,5 Prozent Primärüberschuss sein, das heißt die Überschüsse vor Abzug des Schuldendienstes. Danach sind auf Jahrzehnte hinaus Primärüberschüsse von 2,2 Prozent geplant.

Nur wenn dieser Pfad nicht verlassen wird, kann Griechenland den Märkten und den europäischen Partnern beweisen, es mit der fiskalischen Disziplin wirklich ernst zu meinen. Aber die ersten zwei Schritte sind getan. Vom Rettungsschirm kann man sich verabschieden. Und der Euro gilt in Athen und Kreta bis heute.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.08.2018)

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