Österreichs schrumpfende Mittelschicht

(c) APN (Thomas Kienzle)
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Sie finanziert den Staat, muss auch jetzt die Belastungen des Steuer- und Sparpakets tragen: Die österreichische Mittelschicht gerät immer stärker unter Druck. Ein Leben am Rande des finanziellen Absturzes.

Wenn man eine österreichische Musterfamilie sucht, dann findet man sie in einer Seitenstraße im niederösterreichischen Gablitz vor den Toren Wiens. Die Familie K. lebt in einem schmucken Einfamilienhaus; sie hat zwei Autos, drei Kinder, einen Hund und zwei Meerschweinchen. Er arbeitet in einer Rechtsanwaltskanzlei, sie bei der Stadt Wien. Gemeinsam kommen sie auf ein Nettoeinkommen von knapp 4000 Euro. „Das klingt nicht schlecht“, sagt K. , „aber am Ende des Monats bleibt nichts übrig.“

K. ist damit nicht allein. Laut einer aktuellen Umfrage der Erste-Bank kann ein Viertel der Österreicher pro Monat weniger als 50 Euro auf die Seite legen. Nimmt man jene hinzu, denen weniger als 100 Euro bleiben, spricht man schon fast von der Hälfte der Bevölkerung (47Prozent). Im Durchschnitt sparen die Österreicher laut jüngster Studie der Oesterreichischen Nationalbank pro Monat 114Euro (zum Vergleich: in der Schweiz sind es im Schnitt fast 400 Euro). In der Realität drücken sich diese Zahlen so aus: „Das Auto darf nicht eingehen oder das Dach einen Schaden haben, sonst wird's eng“, sagt K.

Die Diskussion um die „working poor“ – also jene Menschen, die trotz eines Arbeitsplatzes nicht genug Geld zum Leben haben – hört nicht mit der Armutsgefährdung auf. Sie geht weiter bis in große Teile der Mittelschicht, die nur einen verlorenen Arbeitsplatz oder ein kaputtes Auto vom Absturz entfernt ist – auch wenn es den Österreichern laut Statistik heute so gut geht wie noch nie. Der Philosoph Rudolf Burger sprach in der „Kleinen Zeitung“ von einem „gut genährten und fetten“ Österreich, in dem es kein wirkliches Leid gebe. Laut Oesterreichischer Nationalbank stieg das Nettofinanzvermögen der privaten Haushalte seit Ende 2006 um zwölf Prozent: Jeder Haushalt hat im Durchschnitt Geld in Höhe von etwa 80.000 Euro auf die Seite gelegt.

Im Durchschnitt ergeben freilich auch ein brennender Kopf und eingefrorene Füße eine angenehme Temperatur. Wie es der Mittelschicht finanziell tatsächlich geht, ist in Österreich nicht untersucht. In der Schweiz dagegen ging im heurigen Sommer eine groß angelegte GfS-Studie der Frage „Wie geht es den Mittelschichtfamilien?“ nach und kam zu dem Schluss: Nicht allzu gut. Ein „erheblicher Teil“ (zwei Fünftel) bewege sich „am finanziellen Limit“. Ähnliche Ergebnisse gibt es aus Deutschland.

In Österreich ist das nicht viel anders, glauben Experten. „Viele Familien leben an der Kippe“, meint Gudrun Biffl, Wirtschaftsprofessorin an der Universität Krems. Sie spricht von einem „Druck auf die Mitte“, weil die Lebenshaltungskosten in den vergangenen Jahren stärker gestiegen seien als die Einkommen.

Dazu kommen die staatlichen Belastungen. Die Mittelschicht umfasst grob definiert Personen mit einem monatlichen Einkommen zwischen 2000 und 5000 Euro brutto, laut Lohnsteuerstatistik 2009 sind das etwa 1,4 Millionen Menschen. Diese 35Prozent der Berufstätigen finanzieren den Staat. Sie kommen für 55,5Prozent der Lohn- und Einkommensteuer auf und bezahlen 58Prozent der Sozialabgaben. Bei den indirekten Steuern (Mehrwertsteuer, Mineralölsteuer, Tabaksteuer usw.) beläuft sich ihr Beitrag auf mehr als 60 Prozent.


Belastungen durch Staat steigen. Die Belastungen werden mit dem neuen Spar- und Steuerprogramm der Regierung noch weiter steigen. 1,7Milliarden Euro will Finanzminister Josef Pröll durch Steuererhöhungen ins Budget bekommen. Insgesamt geht es um sechs Milliarden Euro, die der Staat bis 2013 einsparen und neu einnehmen will. Im Extremfall bedeuten beispielsweise allein die Änderungen bei der Kinderbeihilfe, dass eine vierköpfige Familie jährlich 2200 Euro verliert.

Da muss man sich tatsächlich nach den guten, alten Zeiten zurücksehnen. „In den USA geht es einer Familie im Alter um die 30 Jahre heute finanziell schlechter als noch ihren Eltern, als sie im gleichen Alter waren“, berichtet Alois Guger, Wirtschaftsforscher des Wifo. In Österreich sei das ähnlich, werde aber zumindest teilweise durch den Sozialstaat und die Umverteilung ausgeglichen.

Dabei mag die Umverteilung von oben nach unten recht gut funktionieren, die Mitte aber fällt um viele Zuschüsse und Förderungen um. Laut der Umverteilungsstudie des Wifovom September 2009 erhält das untere Drittel der österreichischen Haushalte 43,5 Prozent aller Transferleistungen. Das obere Drittel bekommt wiederum fast so viel wie das mittlere: 25Prozent gegenüber 31,5Prozent. Bei der Familienförderung wird der Unterschied noch größer: Fast die Hälfte aller Familienleistungen fließt in das untere Einkommensdrittel.

Wie das am Ende des Monats aussieht, hat die heftig diskutierte Studie des Grazer Wissenschaftlers Franz Prettenthaler im vergangenen Jahr deutlich gezeigt: Ein Haushalt (zwei Erwachsene, zwei Kinder) mit einem Nettoeinkommen von 1600Euro kommt mit staatlichen Zuschüssen auf ein verfügbares monatliches Einkommen von 3217 Euro – auf um gerade einmal 40 Euro weniger als eine Familie, die 2700 Euro netto verdient und deshalb nur etwas mehr als 500 Euro an Förderungen erhält.

Unabhängig, woher das Geld stammt, bei solchen Summen muss man schon ziemlich gut budgetieren, um über die Runden zu kommen. Laut der Konsumerhebung der Statistik Austria gibt eine Familie mit zwei Kindern pro Monat nämlich durchschnittlich 3390 Euro aus – und das sind Zahlen aus dem Jahr 2004/2005.


Anstieg bei Schuldnerberatung.
„Wir fragen uns oft, wie Familien mit 2500, 3000 Euro im Monat überleben können. Das wird für einen vierköpfigen Haushalt knapp“, sagt Peter Kopf vom Vorarlberger Institut für Sozialdienste. In Österreichs westlichstem Bundesland fressen vor allem die hohen Wohnungskosten einen Gutteil des Einkommens auf: Für weniger als 1000 Euro bekomme eine Familie laut Kopf keine akzeptable Unterkunft. Die Folge: „Wenn ein Drittel der Einnahmen gebunden ist, bleibt nicht viel Spielraum für anderes.“

Wenn dann etwas passiere, landen die Menschen bei der Schuldnerberatung seines Instituts: „Eine lange Krankheit, ein Jobverlust – da spielen sich Tragödien ab.“ Kopf stellt fest, dass vor allem immer mehr Menschen aus der Mittelschicht Beratung und Hilfe suchen. Bei ihnen habe man in den vergangenen Jahren „eine deutliche Zunahme“ verzeichnet.

Das wirft die banale Frage auf, ob die Menschen nicht einfach nur über ihre Verhältnisse leben. Kopf: „Man vergleicht sich natürlich immer nach oben und begibt sich damit unter sozialen Druck. Wenn der Nachbar einen teuren Urlaub macht, muss man das auch, und wenn er ein neues Auto hat, will man auch eines.“ Die Menschen würden sich auf ihrem aktuellen Einkommensniveau verschulden, aber „da darf sich finanziell nicht viel ändern“. Oft genüge es schon, dass ein Unternehmen in der Wirtschaftskrise fixe Überstunden gestrichen hat, mit denen der Arbeitnehmer kalkuliert hat, um die Familie in finanzielle Probleme zu bringen.


Unsicherheit wächst.
Das führt zu Unsicherheit und dazu, dass sich die Mittelschicht in Österreich „nicht wohlfühlt“, wie Ulrich Schuh vom Institut für Höhere Studien konstatiert. Roland Verwiebe, Professor am Institut für Soziologie der Uni Wien, attestiert: „Wir sehen seit 2004 einen relativ starken Anstieg der Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation – nach Jahren einer relativ großen Zufriedenheit.“ Das habe vor allem mit der Sorge um den Arbeitsplatz zu tun, der nicht mehr so sicher wie einst sei.

Das wiederum führt auch zu gesellschaftlichen Veränderungen. „Die klassische Entwicklung der 1970er- und 1980er-Jahre – Heirat, Haus, Kind, Hund – gibt es heute nicht mehr“, meint Schuh. Man erfreue sich in Österreich zwar eines hohen Wohlstands, der stehe aber in vielen Fällen auf wackligen Beinen. „Früher konnte man davon ausgehen, dass es jeder Generation besser geht, als der zuvor“, sagt Schuh. „Das ist heute nicht mehr der Fall.“ Ebenso wenig wie die Garantie, mit zunehmendem Alter auch automatisch mehr zu verdienen. „Damit kann man nicht mehr kalkulieren.“ Und so rückt der Mittelstandstraum vom Haus im Grünen weiter in die Ferne. Insgesamt sei der „einst stabile Block der Mittelschicht amorpher“ geworden.

Wirtschaftsforscher Guger hält eine neue Diskussion um Umverteilung für notwendig. Bis in die 1980er-Jahre habe es in Österreich mehr Gleichheit gegeben, jetzt gebe es „eine Entwicklung zu mehr Ungleichheit in der Gesellschaft“. Die Lohneinkommen seien zurückgeblieben, während das Vermögen in den vergangenen Jahren stark gestiegen sei. Guger belegt das mit Einkommenszahlen: „Zwischen 1995 und 2006 stieg das Einkommen unter der Höchstbeitragsgrundlage (4110 Euro brutto pro Monat, Anm.) um 26 Prozent. Die Einkommen darüber aber um 52 Prozent.“

Gudrun Biffl spricht von einem „Ausfransen“ der Mittelschicht nach oben und unten, und auch Soziologieprofessor Verwiebe sieht ein Schrumpfen der Mitte. „Wir sehen einen Anstieg des Wohlstands, einen Anstieg des Reichtums und eine Zunahme der Prekarität (kurzfristige und leicht kündbare Beschäftigungsverhältnisse, Anm.). Die Mitte schrumpft.“ In der Einkommensstatistik vollzieht sich dieser Wandel langsam: Der Anteil der Mitte (enthalten im dritten bis achten Dezil der Bruttoeinkommen) sank zwischen 2004 und 2008 von 49,7 Prozent auf 47,5 Prozent.

Aufstieg der Dritten Welt. Die gegenteilige Entwicklung machen derzeit die aufstrebenden Länder der Dritten Welt. Allein im vergangenen Jahr stiegen laut „Newsweek“ 70 Millionen Menschen in die Mittelklasse auf. Sie seien die „Story des Jahrzehnts“, zitierte die Zeitschrift den Chefökonomen von Goldman Sachs, Jim O'Neill. Bereits in zwanzig Jahren würden sie ihre Klassenkollegen im Westen in Bezug auf die globale Kaufkraft überbieten.

Vor den Folgen einer schrumpfenden Mittelschicht warnte vor 2300 Jahren schon der griechische Philosoph Aristoteles. Ein Staat, in dem der Mittelstand herrsche, sei der glücklichste und beste. Denn der Mittelstand gehorche am leichtesten der Vernunft, er sei „die Geheimwaffe der Demokratie“. Diese Waffe droht stumpf zu werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2010)

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