Die heimliche Steuer auf Schein-Einkommen

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Die wichtigste Steuerreform wäre die Abschaffung der "kalten Progression". Das ist in einem Land, das gerade ein echtes Budgetdefizit von 17 Prozent fährt, auf absehbare Zeit freilich nur schwer vorstellbar.

Erfreuliches hatte das Finanzministerium diese Woche zu berichten: Obwohl die Wirtschaft zur Zeit nicht gerade blüht, sind die Steuereinnahmen des Bundes um gut vier Prozent gewachsen. Gratulation!
Allerdings enthält das Jubel-Zahlenwerk ein paar Daten, die einen ins Grübeln bringen. So stehen etwa im ersten Halbjahr beim Bund Einnahmen von 30,3 Mrd. Euro Ausgaben von 35,4 Mrd. Euro gegenüber. In den vergangenen sechs Monaten hat der Bund also ein Defizit (so nennt man nun einmal einen Negativsaldo im Haushalt) von schlappen 17 Prozent eingefahren.
Bitte jetzt nicht damit kommen, dass man das Defizit von Staatshaushalten allgemein am Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst: Das ist zwar eine weit verbreitete, aber letztlich reichlich inhaltsleere Kennziffer, die nur zur Verschleierung der wahren Situation dient. Denn dem Staat stehen zur Abdeckung seiner Verbindlichkeiten nun einmal nur seine Einnahmen zur Verfügung. Und nicht die gesamte Wirtschaftsleistung des Landes und seiner Bewohner. Außer natürlich, er hätte vor, die Steuer- und Abgabenquote auf 100 Prozent des BIPs zu schrauben.
Der Staat kommt also trotz eifrig sprudelnder Einnahmen mit seinem Geld dramatisch nicht aus. Nicht, dass das eine rasend neue Erkenntnis wäre. Man muss aber kein Mathematikgenie sein, um zu erkennen, dass man mit ziemlich hohem Tempo in Richtung Wand fährt, wenn man über längere Zeit um 17 Prozent mehr ausgibt, als man einnimmt. Eine verantwortungsvolle Regierung würde beginnen, sich darüber Gedanken zu machen. Statt über Wahlgeschenke für ihre jeweilige Klientel nachzudenken.

Die zweite Kennziffer, die die Alarmglocken schrillen lassen sollte: Trotz sehr moderater Lohnerhöhungen und deutlich steigender Arbeitslosenraten gehört die Lohnsteuer zu den am stärksten wachsenden Steuerarten. 6,1 Prozent hat das Plus im ersten Halbjahr ausgemacht. Seltsam, nicht?
Die Erklärung dafür ist einfach: Die „kalte Progression“ hat zugeschlagen. Die entsteht dadurch, dass die Steuertarife nicht an die Inflation angepasst werden, wodurch jedes Jahr eine Reihe von Arbeitnehmern in Steuerklassen „aufrückt“, die für sie nicht gedacht waren. Mit anderen Worten: Es handelt sich hier um eine versteckte Zusatzsteuer auf real nicht vorhandene Schein-Einkommenssteigerungen, die von der Inflation bereits weggefressen wurden.

IHS-Chef Keuschnigg hat erst vor wenigen Tagen auf dieses hierzulande auch schon seit Jahrzehnten konsequent ignorierte Problem hingewiesen. Die Sache ist für die Bezieher lohnsteuerpflichtiger Einkommen freilich viel dramatischer, als es aussieht. Immerhin hat sich etwa die Zahl derer, die in die höchste Steuerklasse (50 Prozent Grenzsteuersatz) hineinfallen, in den vergangenen Jahren annähernd verdoppelt, ohne dass die Realeinkommen sonderlich gestiegen wären.
Die nüchternen Zahlen des Finanzministeriums und der Statistik Austria zeigen am besten, wie sehr hier der Staat unbemerkt in die Taschen der Bürger greift: Seit dem Jahr 2000 ist das Durchschnitts-Bruttoeinkommen der unselbstständig Erwerbstätigen (arithmetisches Mittel) um rund 28 Prozent gestiegen. Der Verbraucherpreisindex hat knapp gleich stark zugelegt, unter dem Strich wäre in zwölf Jahren für den Durchschnitts-Gehaltsbezieher also eine minimale reale Einkommenssteigerung herausgekommen.

Wäre – wenn nicht die diversen Finanzminister umbarmherzig zugeschlagen hätten. Denn das Lohnsteueraufkommen ist in diesem Zeitraum um knapp mehr als 60 Prozent gewachsen. Also mehr als doppelt so schnell. Mit anderen Worten: Was immer in den letzten zwölf Jahren an Brutto-Lohnsteigerungen herausverhandelt wurde: Staat und Inflation haben es real wieder weggefressen. Und noch ein bisschen dazu.
Wir walzen das hier deshalb so aus, weil Vorwahlzeit ist und die beiden Regierungsparteien wieder mit Konzepten für „Steuerentlastung“ herumwacheln, die diese Bezeichnung nicht verdienen. Und weil man jetzt immer mehr Sonntagsreden von wegen „steuerliche Entlastung der Arbeit“ hört – und dann zusehen muss, wie die Sonntagsredner in aller Ruhe der steuerlichen Zusatzbelastung von Arbeit durch kalte Progression beim rasanten Steigen zusehen.
Dabei muss man, um dieses Problem zu beseitigen, keineswegs das Rad neu erfinden. Genau die Hälfte der OECD-Länder hat es schon gelöst, indem die Einkommensgrenzen, ab denen die jeweils höhere Stufe schlagend wird, einfach mit der Inflation mitwachsen. So wird automatisch verhindert, dass sich die Bezieher von Durchschnittseinkommen plötzlich mit Steuersätzen konfrontiert sehen, die eigentlich für Topverdiener gedacht waren.

In der Schweiz beispielsweise werden sie neuerdings jährlich an die Inflation angepasst. Dort gilt der höchste Steuersatz (für Ehepaare) übrigens ab einem Einkommen von 895.900 Franken im Jahr. Und nicht ab läppischen 60.000 Euro (in der Praxis wegen der steuerlichen Absetzbarkeit der Sozialversicherungsbeiträge etwas über 70.000 Euro) wie bei uns.

Wie gesagt: Die versteckte Steuer namens kalte Progression ließe sich leicht reparieren. Das würde die Steuereinnahmen aber um einen mittleren dreistelligen Millionenbetrag im Jahr verringern. Und ist somit, so realistisch muss man sein, in einem Land, das gerade ein echtes Budgetdefizit von 17 Prozent fährt, nicht sehr wahrscheinlich. Das muss man vorerst wohl akzeptieren. Aber man möge uns, solange das nicht geht, auch mit der unerträglichen Wahlkampf-Heuchelei von der „steuerlichen Entlastung der Arbeit“ verschonen.

E-Mails: josef.urschitz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2013)

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