Ratlos am Krankenbett der Konjunktur

Yellen testifies before the Senate Banking Committee at Capitol Hill in Washington
Yellen testifies before the Senate Banking Committee at Capitol Hill in Washington(c) REUTERS (CARLOS BARRIA)
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Wir erleben gerade einen wirtschaftlichen Umbruch, der selbst internationale Experten ratlos macht. Aber statt nach Lösungen zu suchen, müssen wir uns mit ungelösten wirtschaftspolitischen Uraltproblemen befassen.

Zinsen drücken, Geldhahn aufdrehen – und schon brummt die Konjunktur wieder: Dieses wirtschaftspolitische Dogma ist gerade dabei, entsorgt zu werden. Bezeichnenderweise in den USA, wo man die längere Erfahrung damit hat.

Dort sind vereinzelte Fed-Doctores am Krankenbett der Konjunktur ja schon vor Längerem zum Schluss gekommen, dass die Nullzinsenmedizin beim Patienten nicht nur nicht mehr wirkt, sondern möglicherweise sogar Nebenwirkungen hat, die dessen Gesamtzustand noch verschlechtern. Gerade rechtzeitig vor der gestern gestarteten Notenbankertagung in Jackson Hole hat etwa der Chef der Fed of San Francisco das Inflationsziel, dem die US-Notenbank (und noch viel stärker die EZB) hinterherläuft, infrage gestellt (nachzulesen unter www.frbsf.org/economic-research/publications/economic-letter/2016/august/monetary-policy-and-low-r-star-natural-rate-of-interest/).

So wie übrigens schon früher dessen Kollege James Bullard von der Fed of St. Louis, der zu diesem Inflationsziel vor ein paar Monaten gemeint hat, „wir dürfen nicht Sklave eines Mandats sein, das in der Ökonomie, der wir uns gegenübersehen, keinen Sinn ergibt“.

Starker Tobak. Das Beunruhigende daran ist aber nicht, dass die Notenbanker sehen, dass sie mit ihrem gängigen Latein am Ende sind. Sondern dass sie nicht genau wissen, warum. „Da draußen geht irgendetwas vor, was wir noch nicht genau verstehen“, hat einer von ihnen neulich öffentlich erklärt.

Etwas, was mit den gängigen Theorien nicht erfasst werden kann. Was aber auch kein Wunder ist: Die großen ökonomischen Theorien, an denen wir uns orientieren, stammen aus dem späten 19. und dem frühen 20. Jahrhundert. Wenn es stimmt, dass wir uns an der Schwelle zur vierten industriellen Revolution befinden, dann geben die möglicherweise nicht mehr die richtigen Antworten.

Auch der Wirtschaftspolitik nicht, an die ja jetzt der Ball weitergespielt wird: Der ganze QE-Zirkus könne ja nur wirken, wenn die Staaten die strukturellen Voraussetzungen schaffen und ihre aufgeschobenen Reformen in Angriff nehmen, lautet die Argumentationslinie von Fed und EZB.

Stimmt, aber darauf zu hoffen ist, wie die Erfahrung zeigt, ein bisschen blauäugig. Die meisten Länder haben ja nicht einmal ihre alten Hausaufgaben gemacht.

Am Beispiel Österreich: Während Deutschland für das erste Halbjahr einen gesamtstaatlichen Überschuss von 18,5 Mrd. Euro vermeldet, hat in Österreich allein der Bund (trotz Niedrigzinsphase) 6,6 Mrd. Euro mehr verbraucht als eingenommen. Nachdem die Steuer- und Abgabenquote in Deutschland niedriger ist als bei uns und der Zustand der deutschen Wirtschaft auch nicht gerade nach kaputtgespart aussieht, gibt es hierzulande demnach ein ganz massives, ungelöstes Ausgabenproblem.

Die Deutschen können jetzt entscheiden, ob sie ihren Überschuss in Form von Steuersenkungen weitergeben oder mehr investieren. Beides belebt die Wirtschaft.

Wir haben diesen Spielraum nicht – außer wir lassen die Staatsschulden weiter explodieren. Die Regierung erweckt jetzt zwar zumindest den Anschein, als würde sie ein paar dieser Altlasten beseitigen wollen (wenngleich wir folgenlose Arbeitsgruppenaktivitäten schon zur Genüge kennen).

Aber erstens scheint die eigentliche Herkulesaufgabe, nämlich die Schaffung budgetären Spielraums durch eine umfassende Verwaltungs- und Föderalismusreform, nicht wirklich auf der Agenda zu stehen. Und zweitens reden wir, selbst wenn die Ergebnisse des derzeitigen Diskussionsprozesses unerwarteterweise auch in die Umsetzungsphase gelangen, ausschließlich von der Reparatur vergangener Versäumnisse.

Dabei sollten wir uns längst in der Phase der Vorbereitung auf die kommenden Herausforderungen befinden. Und zum Beispiel darüber diskutieren, wie wir unser Bildungssystem für das digitale Zeitalter fit machen. (Ein Tipp: mit deutlich verschärften Zugangsbeschränkungen für das Informatikstudium eher nicht). Oder wie wir das Sozialsystem samt Finanzierung auf die kommende Umgestaltung der Arbeitswelt ausrichten. (Noch ein Tipp: die ständige Ausweitung der Anzahl der Begünstigten bei gleichzeitiger Erosion der Finanzierungsbasis ist da eher nicht hilfreich).

Oder wie wir das Steuersystem von der schwerpunktmäßigen Ausrichtung auf menschliche Arbeit wegbekommen, ohne dass das in einer steuerlichen Vertreibungsaktion der letzten Produktionsbetriebe mündet. (Ein letzter Tipp: Ideologiediskussionen aus der Mottenkiste des vorigen Jahrhunderts bringen uns da nicht weiter).

Davon hören wir wenig. Eher von traditionellen Arbeitsmarktprogrammen. Und auch die sind nicht immer auf Zukunftstauglichkeit hinterfragt. Man könnte in einer Zeit, in der mit selbstfahrenden Lastfahrzeugen auf E-Basis experimentiert wird, beispielsweise auch fragen, ob es die Eisenbahn in der Form noch geben wird, wenn in Jahrzehnten die letzte Rate des laufenden Mega-Investitionsprogramms abgezahlt sein wird.

Aber damit sind wir wohl schon im Bereich der Ketzerei. Halten wir also fest: Wir erleben gerade einen wirtschaftlichen Umbruch, der selbst internationale Experten ein bisschen ratlos macht. Und wir müssen uns mit ungelösten Uraltproblemen befassen.

E-Mails an:josef.urschitz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.08.2016)

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