Europa: Reich und schwach

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Zahlreiche Staaten Europas sitzen in der Schuldenfalle, allerorts explodieren die Defizite und nirgendwo ist zu sehen, wie die in den vergangenen Jahrzehnten angehäuften Schuldenberge je wieder abgetragen werden könnten.

Wenn ab kommendem Dienstag die intellektuellen Spitzen des Landes im Tiroler Bergdörfchen Alpbach die wirtschaftliche Zukunft Europas erörtern, werden sie vermutlich eine brandheiße Studie im Gepäck haben: jene des Brüsseler Bruegel-Instituts, einer sogenannten Denkfabrik, die sich hauptberuflich mit der Qualität der europäischen Wirtschaftspolitik beschäftigt. Und zu interessanten Einschätzungen kommt: „Die Krise könnte als der Moment in Erinnerung bleiben, als Europas wirtschaftlicher Abstieg unumkehrbar begann.“

Aus Sicht der Bruegel-Ökonomen steht das europäische Modell zur Disposition: Zahlreiche Staaten Europas sitzen in der Schuldenfalle, allerorts explodieren die Defizite und nirgendwo ist zu sehen, wie die in den vergangenen Jahrzehnten angehäuften Schuldenberge je wieder abgetragen werden könnten. Gelingt es der künftigen EU-Kommission nicht, das politische Führungspersonal der Mitgliedsländer auf eine Exit-Strategie aus der staatlichen Stimuluspolitik einzuschwören, drohe ein wirtschaftlicher, sozialer und politischer Rückschritt, so das Bruegel-Papier.

Nicht gerade Aussichten, die Champagnerkorken knallen lassen.


Schon auf dem Weg nach unten? Zumal sehr viel darauf hindeutet, dass selbst ein geordneter Schuldenabbau den langen wirtschaftlichen Abstieg Europas nicht mehr verhindern kann – den dürften wir nämlich längst anzutreten begonnen haben. Das heißt nicht, dass Europa vor der Verarmung stünde – die Bewohner des Alten Kontinents werden noch über Jahrzehnte hinaus überproportional wohlhabend bleiben. Das Problem liegt allerdings darin, dass die Bevölkerung überaltert und schrumpft. Was wiederum bedeutet, dass die Financiers der Wohlfahrtsstaaten sukzessive ausdünnen, während die Zahl jener Menschen, die immer höhere Forderungen an die abnehmende Zahl von Aktiven stellt, rasant wächst.

Zu lösen wäre dieses Dilemma über immer neue Schulden oder eine deutliche Steigerung der Produktivität. Letzteres wiederum geht nur über Innovationen. Und genau da scheint Europa längst nicht mehr die erste Adresse zu sein. Es ist kein Zufall, dass Bill Gates und Steve Jobs nicht aus Wuppertal oder Palermo kommen und die großen europäischen Pioniere allesamt im letzten Jahrtausend lebten.


Zu Tode gesichert. Obwohl die sozialen Sicherungsnetze nirgendwo so dicht geknüpft sind wie in Europa, fürchten sich die Menschen nirgendwo in der Welt so vor Risiko wie in unseren Breiten. Wer wirtschaftlich scheitert, ist ebenso der sozialen Ächtung ausgesetzt wie jemand, der reich wird. Der unternehmerische Erfolg wird vielerorts noch immer als unverschämter Diebstahl an der Solidargemeinschaft verstanden – ungeachtet des Umstands, dass die Allgemeinheit ohnehin die Hälfte der Risikoprämie (Gewinn) des Unternehmers einstreift. Jedenfalls dürfte das nicht gerade das Umfeld sein, in dem jene Innovationen entstehen, die unser aller Wohlstand dauerhaft sichern.

Aber sehen wir die Sache einmal positiv. Die tobende Krise bringt nicht nur die Wohlfahrtsstaaten Europas in Schwierigkeiten, sie beschleunigt auch den wirtschaftlichen Aufstieg jener Länder, deren Menschen bis dato wenig zu lachen hatten. Schon heuer geht das Wachstum der Weltwirtschaft fast zur Gänze auf das Konto der aufstrebenden Märkte Asiens und Südamerikas. Die drei teuersten Banken der Welt kommen mittlerweile aus dem roten China – wer hätte das vor zehn Jahren für möglich gehalten? Prognosen zufolge werden 2025 fünf der zehn größten Volkswirtschaften der Welt aus der Gruppe der heutigen Schwellenländer kommen. Das heute von Korruption zerfressene Indien soll dann zur Nummer drei der Welt aufgestiegen sein (hinter den USA und China).

Jung, gebildet, hungrig nach Erfolg. Mit einem Durchschnittsalter von 24,9 Jahren ist Indien vor allem eines: jung. Laut Klaus Malle von Accenture Österreich stehen dem Land mit einer halben Milliarde Menschen im erwerbsfähigen Alter doppelt so viele Arbeitskräfte zur Verfügung wie der gesamten EU. Knapp drei Millionen Inder verlassen jährlich eine Universität, womit nicht einmal der Bedarf der Hightechsektoren gestillt werden kann. Dennoch wird sich Indiens Wirtschaftsleistung in den nächsten 15 Jahren verfünffachen.

Gemessen an der Wirtschaftsleistung pro Kopf werden die Helden von morgen den wohlhabenden Europäern noch länger unterlegen sein. Allerdings zählen allein China und Indien mehr als 123 Millionen Mittelschichthaushalte – das ist mehr als die Anzahl aller Haushalte in den USA. Im Jahr 2025 werden über die Hälfte aller Elektronikgeräte, Autos, Nahrungsmittel und Textilien in den aufstrebenden Märkten verkauft. Die Verbraucher in China, Indien, Russland, Südkorea, Brasilien und Mexiko werden jüngsten Schätzungen zufolge in 15 Jahren 25 Billionen Dollar für Konsumgüter ausgeben – und damit mehr als die Menschen in den USA, Japan und Westeuropa.


Der Gartenzaun als Messlatte. Während die Bewohner der unterprivilegierten Regionen in der Marktwirtschaft den schnellsten und sichersten Fluchtweg aus der Armut sehen, warnen in Europa durchaus intelligente Zeitgenossen vor dem „ungezügelten Kapitalismus“, der den Sozialstaat zerstöre. Und das in Ländern, in denen die öffentliche Hand der größte Wirtschaftsfaktor ist, in denen 30 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung für Soziales ausgegeben und 50 Prozent Einkommensteuer eingehoben wird.

Wenn mitten in der Wirtschaftskrise zur Sicherung des Wohlstandes angeregt über die Einführung der 35-Stunden-Woche diskutiert wird (obwohl sich dadurch die menschliche Arbeitskraft schlagartig um zehn Prozent verteuert), ist schon eine Menge über Europas Zukunftschancen gesagt. Arm ist in unseren Breiten eben nicht, wer kein Dach über dem Kopf oder nichts zu essen hat. Sondern wer nicht mehr mit 58 in Pension gehen darf oder mit einem etwas weniger luxuriösen Lebensstandard zurechtkommen muss als sein Nachbar.

So gesehen ist es nach Jahrhunderten europäischer Dominanz vielleicht kein Fehler, Menschen aus anderen Teilen der Welt am reichlich gedeckten Tisch des Wohlstands Platz zu machen.

franz.schellhorn@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2009)

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